Lost Place Vienna (German Edition)
konnte sie noch so
weit davonlaufen. Ihrem Brandmal würde sie nicht entkommen. Irgendwann musste
sie sich ihm stellen. Vielleicht war jetzt der Augenblick gekommen. Zirner
hatte womöglich mehr darüber gewusst, deshalb hatte er seinen Rucksack
geschnürt und wollte diesen Platz aufsuchen, dessen Koordinaten er sich notiert
hatte, woher auch immer.
Valentina sprang vom Sofa auf und sah sich in der Wohnung um.
Irgendwo musste es einen Computer geben. In Nicolas Zimmer fand sie keinen,
aber im angrenzenden Kabinett blinkte ein Laptop im Stand-by-Modus.
Valentina fuhr mit dem Finger über das Touchpad. Der Computer
erwachte umgehend und zeigte eine Excel-Statistik über die Rückfälligkeitsquote
therapierter Triebtäter.
Sie klickte den Explorer an und tippte »www.geocaching.com« ein. Den
Link hatte sie sich aus der Geocaching-Fibel gemerkt. Die Verbindung war rasend
schnell. Die Homepage stellte sich vor und erklärte in groben Zügen, worum es
bei dem Spiel ging und wie man sich einloggen konnte. Sie brauchte einen
Benutzernamen. Caravaggios Bild von Judith und Holofernes fiel ihr ein, und sie
tippte »Judith3« ein. Die Drei sollte für die toten Frauen stehen. Ihr Passwort
widmete sie dem italienischen Maler selbst, dann betrat sie das Reich der
Geocacher.
Schnell fand sie die Seite, auf der sie die Koordinaten eingeben
konnte. Sie war gespannt, ob sich an der Stelle ein eingetragener Schatz
befand. Sofort sprang eine neue Seite auf. Ein blaues Fragezeichen
kennzeichnete den Schatz als Rätsel. Dahinter stand »Crime-Time Bücher-Cache«.
Der Schatz war erst vor zwei Tagen versteckt worden. Bislang gab es noch keinen
Jäger, der den Fund des Schatzes vermerkt hatte.
Von einem Bücher-Cache hatte Valentina in der kleinen Fibel nichts
gelesen. Jetzt wurde sie darüber aufgeklärt: »Dieser Cache dient dazu, Bücher
zu tauschen, die sonst im Regal verstauben würden, die man vielleicht doppelt
hat oder von denen man sich aus irgendwelchen Gründen trennen will.
›Crime-Time‹ ist das Thema dieses Caches. – Der Bücher-Cache ist also zum
Tausch von Kriminalromanen (Detektivgeschichten, Spionageromanen, Thriller …)
angelegt worden.«
Es handelte sich um einen Multiple-Cache. Das bedeutete, dass die
Koordinaten, die Valentina besaß, noch nicht das Ziel angaben, sondern bloß die
erste Etappe darstellten. Sie scrollte die Seite hinunter und erschrak, als sie
ein Foto des Ortes sah, an dem sich der erste Cache befinden sollte. Es war
eine vom Wetter gegerbte Hauswand mit einem verrosteten Eingangstor, über dem
in rostbrauner Farbe das Wort »Romane« geschrieben stand.
»Brünner Straße, Floridsdorf. Romane, ›Bounty‹, ›Die drei
Musketiere‹. Crime-Time.« Nacheinander ließ Valentina die Wörter aus ihrem Mund
bröseln und fegte dann mit einer unbewussten Bewegung mit den Fingern über die
Tastatur, als wolle sie die Krumen ihrer Gedankenkette damit wegwischen. Jetzt
gab es für sie keinen Zweifel mehr. Zirner war dem Mörder ganz dicht auf den
Fersen gewesen. Aber warum hatte er ihr nichts davon gesagt?
Valentina blickte aus dem Fenster. Es dämmerte bereits. Bis
Floridsdorf würde sie mit dem Rad knappe vierzig Minuten brauchen. Aber sie
hatte kein Rad. Das stand bei ihr zu Hause im Schuppen. Ohne ihr Brodie war sie
aufgeschmissen. Sie hasste U-Bahnen. Mit dem Rad war sie schneller und fühlte
sich beweglicher. Heute würde sie nicht mehr nach Floridsdorf fahren. Sie würde
in den vierten Bezirk joggen, sich ihr Brodie holen und sich einen Plan machen,
so schwer es ihr auch fiel, ihren Jagdtrieb zu bändigen. Don Bernardo wäre
stolz auf sie gewesen.
Valentina sah aus wie eine Aerobicmaus aus den Achtzigern.
Privat wäre sie nie im Leben in diese affige Montur gestiegen, die sie sich aus
Nicolas Kleiderschrank zusammengeklaubt hatte. Aber es gab sie nicht privat,
sie war im Dienst.
Ihre Trekkingschuhe behielt sie an, darin konnte sie gut laufen. Die
Tarnfarben der Schuhe bissen sich mit den pinken Leggings und der hellgrünen
Kapuzenjacke. Valentina drehte ihre Haare nach oben und simulierte eine
Ananasfrisur. Bei dem Anblick musste sie kurz lachen, überwand sich aber
dennoch, sich das Haar so zu stecken. Jetzt fehlten nur noch der Kaugummi und
das Arschgeweih.
»Amanda, es kann losgehen«, sagte Valentina zu ihrem Spiegelbild und
griff sich den Hausschlüssel vom Nagelbrett neben der Wohnungstür.
Im Treppenhaus begegnete ihr der trauernde Hundebesitzer. Er trug
eine Kiste voller
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