Lost Place Vienna (German Edition)
Aufgaben. Dann hatte sie die Ostkoordinaten des nächsten Cache-Ortes
auch auf dem Zettel: »E016° 15.034’«.
Valentina atmete hoffnungsvoll durch, legte die Gitarre zur Seite
und machte sich auf den Rückweg. Als sie die Klinke hinunterdrückte, merkte
sie, dass sich die Tür nicht öffnen ließ. Amre hatte sie eingeschlossen.
Sie verfluchte sich selbst. Wie hatte sie so dumm sein können, sich
blind auf Amre zu verlassen? Sie wusste doch, dass er sich an jeden verkaufte.
Und wie die Lage aussah, war auf sie ein hohes Preisgeld angesetzt. Einer wie
Amre musste da schwach werden. Ihm war nichts vorzuwerfen. Aber sie selbst
hätte wachsamer sein müssen. Es würde nicht lange dauern, dann würde Amre mit
Parizek zurückkehren.
* * *
Parizek mochte es gar nicht, nachts gestört zu werden. Nicht,
wenn er die Puppen tanzen ließ, und noch weniger, wenn er schlief. Und gerade
hatte er geschlafen. So tief wie lange nicht mehr, dank »Vivinox Sleep«. Ohne
Schlaftabletten bekam er kein Auge mehr zu. Der Stress fraß ihn auf, er war der
Situation nicht mehr gewachsen. Sein Job bei der Polizei hätte schon genügt, um
einen einfachen Menschen zugrunde zu richten, aber die Doppelbelastung als
bezahlter Helfer der ehrenwerten Familie verlangte ihm das Äußerste ab.
Halb blind tastete er nach seinem Handy, das unerbittlich läutete.
Warum sprang die Mobilbox nicht an? »Scheißtechnik!«, fluchte er. »Ja?«,
murmelte er, als er das Telefon endlich gefunden hatte, und richtete sich
langsam auf. Seine Müdigkeit wich sofort jähem Zorn, der sich zwischen seine
spärlich blonden Augenbrauen furchte.
»Woher hast du meine Nummer? Bist du wahnsinnig, mich anzurufen? –
Was? Warte. – Ja, ich komme sofort. Wir treffen uns vor der U-Bahn-Station.«
Parizek schleuderte das Handy in die Laken. Dann rieb er sich die
schlaftrunkenen Augen, überlegte kurz und griff dann wieder nach dem Telefon.
Er wählte eine gespeicherte Nummer und hoffte, damit das Problem zu lösen.
* * *
Es war nicht weit vom »Goldenen Spiegel« bis zur U-Bahn-Station
Kettenbrückengasse. Amre schnappte sich ein Päckchen Zigaretten hinter der
Theke, rief Hubertus zu: »Ich mach Schluss für heute«, und war verschwunden,
ehe der etwas erwidern konnte.
Der Nebel hatte mittlerweile den gesamten Naschmarkt beleckt. Die
Feuchtigkeit kroch aus allen Winkeln. Amre stellte den Kragen seiner
schneeweißen Wolljacke auf und huschte über die Wienzeile zur Haltestation, an
der er sich mit Parizek treffen wollte. Fünfhundert Steine malte er sich
mindestens aus für diese Information. Vielleicht war sogar ein Tausender drin?
Amre frohlockte: So ließ es sich leben. Bis man einen Tausender auf
dem Strich verdient hatte, musste man einiges ackern, und von Drogen hatte er
schnell wieder die Finger gelassen. Da war man zu leicht erpressbar. Gewiefter
war es, Informationen über andere zu sammeln und meistbietend zu verkaufen. Und
er war gewieft. Wie hätte er sonst die neun Monate Knast schadlos überstehen
können? So wie er aussah, war er ein gefundenes Fressen für die geilen Böcke im
Käfig. Aber sie hatten ihn in Ruhe gelassen, weil er Dinge von ihren
Angehörigen außerhalb der Mauern wusste und obendrein ein Netzwerk besaß, das
den Häfnbrüdern Perspektiven auf ein Leben nach der Zelle versprach.
Es war eine Gratwanderung, dessen war sich Amre bewusst; aber er
liebte den Seiltanz. Und was er jetzt gerade wagte, war ein Rückwärtssalto mit
verbundenen Augen, ohne Netz. Er verkaufte eine Polizistin an einen Polizisten.
Er grinste sein teuflischstes Lächeln, das er im Repertoire hatte und das er
nur zu besonderen Anlässen auflegte. Der Nebel schluckte das blendende Weiß
seiner Zahnreihen und mischte es mit Grau.
Er blickte auf die Uhr, die im Giebel des Naschmarktbüros prangte.
Es war kurz vor drei Uhr morgens. Um drei wollte Parizek hier sein.
Amre würde verschwinden, wenn er nicht pünktlich wäre. Wenn man
Kunststücke ohne Netz vollführte, musste man vorsichtig sein und gewisse
Prinzipien einhalten. Eines davon war, rechtzeitig abzubrechen, wenn etwas
verdächtig stank. Und Unpünktlichkeit stank immer. Aber noch hatte Parizek zwei
Minuten, um Amres Kunststück genießen zu dürfen.
Er hatte Parizek nicht gesagt, wo er Valentina festgesetzt hatte. Er
hatte ihm lediglich zu verstehen gegeben, dass er wisse, wo sie sich gerade
befand. Den Rest der Information gab es nur gegen Cash. Vielleicht sogar
fünfzehnhundert? Amre war sich noch
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