Lost Place Vienna (German Edition)
die
einzelnen Worte oder Silben waren in Zahlen zu transferieren. Aber dann hätte
der Cache-Leger wohl kaum die Saiten einer Gitarre für den Schlüssel verwendet.
Außerdem war das Überraschungsei aus einer Gitarre gefallen, es musste sich
also um etwas Gitarrenspezifisches handeln.
Sie sah sich nach Amre um. Er flirtete gerade mit einem hageren,
knochigen Kerl, den nur sein schwarzer Existenzialistenpulli zusammenzuhalten
schien. Er nestelte mit seinen dürren Fingern an Amres oberstem Hemdknopf und
öffnete ihn geschickt. Dann wanderte seine Spinnenhand über den gestreiften
Stoff, um sich auch der anderen Knöpfe zu bemächtigen.
»Amre!«, rief Valentina durch den Refrain von ABBA s »Waterloo«.
Amre blickte auf und sah zu ihr herüber. Sie winkte ihn zu sich. Er
flüsterte dem Hageren vertröstende Worte ins Ohr und löste sich von ihm. Der
drehte sich missmutig in Valentinas Richtung und spie auf den Fußboden.
Valentina fühlte den Impuls, aufzuspringen und den Klapprigen einmal
ordentlich durchzuschütteln, aber sie beherrschte sich. Sie wusste, dass sie
hier nur geduldet war.
Amre war schon bei ihr und blickte sie fragend an.
»Gibt es hier irgendwo eine Gitarre?«, fragte sie.
»Willst du uns ein Ständchen spielen? Aber du hörst ja, worauf die
Jungs hier abfahren. Ist wohl nicht so dein Stoff, Miss Neutral Mask.«
Valentina kniff die Augen zusammen. Nur Zirner hatte gewusst, dass
sie Frontfrau einer Hardrock-Band war, die sich »Neutral Mask« nannte und
dementsprechend ihre Gesichter hinter ledernen Neutralmasken verbarg. Aber sie
wollte das jetzt nicht zum Thema machen und gönnte Amre das Wissen um ihr
kleines Geheimnis.
»Was ist? Gibt es jetzt eine Gitarre oder nicht?«
»Ich muss mal schauen. Hinten im Lager liegt so allerlei. Für die
Drag-Shows haben wir neben Perücken und Divenkostümen auch ein paar
Instrumente. Willst du mitkommen?«
Valentina nickte und steckte das Überraschungsei samt Zettel in ihre
Jackentasche.
»Nimm den Rucksack besser auch mit. Man weiß hier nie.«
Valentina schnappte sich ihr Gepäck und folgte Amre.
»Hubertus, gib mir mal bitte den Schlüssel für den Fundus!«, rief
Amre dem Wirt laut zu, der gerade damit beschäftigt war, ABBA gegen eine CD der
Village People zu tauschen.
»Was willst du denn damit?« Er sah Valentina hinter Amre stehen.
»Verstehe. Die Frau Inspektor will sich Fummel anziehen, damit sie sich mal als
richtiges Weib fühlt? Nur zu. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.« Er
drückte auf den Wiedergabeknopf der Anlage und schwang die Hände zu » YMCA «.
* * *
Nicola hatte genug von den belästigenden Anrufen. Sie hatte ihr
Handy ausgeschaltet, nachdem es ihr der unbekannte geile Bock noch weitere drei
Male auf abgedroschene Weise hatte besorgen wollen. Sie würde den fetten Stefan
morgen zur Rede stellen. Er sollte ruhig wissen, dass sie ihn erkannt hatte.
Es klingelte an der Haustür. Nicola schrak hoch. Er würde doch nicht
etwa so dreist sein? Vielleicht hatte er sie von der Straße aus angerufen und
ihren Schatten hinter dem Vorhang beobachtet, während sie ihre Übungen gemacht
hatte?
Nicola ging ans Fenster und kiebitzte hinter dem Vorhang hervor nach
draußen. Aber außer Nebel, der sich wie Schimmelpilz über das Pflaster gelegt hatte,
sah sie lediglich ein paar Schatten, die sich durch die Feuchtigkeit aneinander
vorbeidrängten, um wieder im weißen Schleier zu verschwinden.
Die Klingel schellte erneut. Vielleicht war es Valentina, die den
Schlüssel vergessen hatte? Nicola atmete bei dem Gedanken erleichtert auf und
tadelte sich für ihre ängstliche Phantasie. Sie hatte die einfachste Lösung
glatt übersehen. Sie lief zur Tür und drückte den Summer, dann ging sie in die
Küche und holte eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank. Der Einzug ihrer neuen
Mitbewohnerin musste begossen werden.
Nach kurzer Suche entdeckte sie die Gläser in der Spülmaschine. Sie
fanden kaum mehr ihren Weg in den Schrank zurück; auf halber Strecke wurden sie
von Nicola meist abgefangen. Es gab einfach immer etwas, das man begießen
musste. Häufig feierte Nicola auch allein; nach einem Grund musste sie nicht
lange suchen. Schon ein Tag, den sie ohne depressive Sinnfragen überstanden
hatte, war ein Grund für ein oder zwei Gläschen Sekt.
Besser als Tabletten, sagte sie sich auch dieses Mal und ließ den
Korken an die Decke knallen. Der Schaum drängte sich durch den engen
Flaschenhals, und Nicola goss den Sekt in die beiden
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