Lost Place Vienna (German Edition)
gesagt. Und
sie musste es ja wissen.
Jetzt war sie froh, dass sie auf Valentina gehört hatte. Denn Stefan
war tot. Er hatte sich erhängt, hieß es. Sie wollte mit seinem Tod nichts zu
tun haben. Wüsste die Polizei, dass er vor seinem Selbstmord bei ihr gewesen
war, würde sie womöglich einen abstrusen Zusammenhang herstellen, den es nicht
gab. Es genügte schon, dass sie gleich bei ihr angerufen hatten. Als ob sie die
wichtigste Person in seinem Leben wäre. Hatte er denn keine Eltern? Und warum
hatte die Polizei nur sie und nicht Tom oder Toby angerufen? Die studierten
doch auch mit ihm.
Ihr Name sei mit einem Herz aus rotem Lippenstift an die Wand seines
Zimmers geschrieben gewesen, darunter die Telefonnummer. Reine Routine, hatte
der Beamte gesagt. Man wollte nur diejenigen informieren, die in engerem
Kontakt zu dem Toten standen. Sie stand in keinem engeren Kontakt. Weder zu dem
toten noch zu dem lebenden Stefan Gruber.
»Welche Rolle spielt die Perspektive? Die Aussicht eines Menschen
auf ein Entkommen? Gerade im Fall einer Depression?«, fragte Frau Pillmann mit
erhobener Stimme, wie immer, wenn es besonders wichtig werden sollte. »Ein
Experiment mit Hunden, die Stromschlägen ausgesetzt wurden, zeigte Folgendes:
Hatten die Hunde die räumliche Möglichkeit zur Flucht, leisteten sie Widerstand
und versuchten zu fliehen. Egal wie häufig sie zuvor schon den Stromschlägen
ausgesetzt worden waren. Sperrte man die Hunde aber ein, ohne Aussicht auf
Entkommen, ergaben sie sich wehrlos den Stromschlägen. Sie brachten keine
Energie des Widerstands auf. Was heißt das?«
Tom meldete sich. »Sie meinen damit, dass Selbstmörder keine
Perspektive mehr für sich sehen und sich deswegen umbringen? So wie Stefan?
Hätten wir als Kommilitonen ihm eine Perspektive aufzeigen können? Oder sogar
müssen?«
»Blödsinn!«, entfuhr es Nicola. Sie ärgerte sich, dass sie Tom und
Toby überhaupt von Stefans Selbstmord erzählt hatte. War ja klar, dass die das
nicht für sich behielten. »Es geschah ihm recht«, hätte sie am liebsten
geschrien, stattdessen argumentierte sie: »Gibt es nicht auch die
physiologische Depression? Hätte man ihn nicht mit Medikamenten behandeln
können?«
»Der Fall Stefan Gruber hat hier nichts zu suchen. Wir sprechen über
allgemeine Symptome und Auswirkungen der Depression. Suizid ist nicht immer nur
Folge von Depression«, mahnte Frau Pillmann.
»Aber warum hätte sich Stefan sonst umbringen sollen? Vielleicht aus
unerwiderter Liebe?«, setzte Tom nach.
Nicola spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Plötzlich
befand sie sich im Zentrum der Diskussion und spürte, wie alle zu ihr
schielten. Tom hatte wohl rumerzählt, dass sie sich vor Stefans Zudringlichkeit
geekelt hatte. Wurde sie jetzt mit einem Mal zur Mörderin, nur weil sie diesen
Fleischkloß nicht an sich rangelassen hatte?
»Unerwiderte Liebe, Schulden, Perspektivlosigkeit, Isolation, das
Gefühl von Nutzlosigkeit, das können Motive für einen Selbstmord sein. Aber wie
gesagt, wir sprechen hier allgemein und nicht über einen Menschen, der noch
nicht einmal beerdigt wurde. Ich weiß Ihre wissenschaftliche Neugier zu
schätzen, aber auch Pietät ist ein Teil unseres Berufes«, schloss Frau
Professor Pillmann das Thema bestimmt ab.
* * *
Es war nicht schwer gewesen, Stefan Grubers Adresse
herauszubekommen. Ein Blick ins Telefonbuch hatte genügt. Die Geiselbergstraße 27
lag in Simmering und war ein Gemeindebau der Stadt Wien.
Nachdem Nicola sie angerufen und ihr vom Tod Stefans erzählt hatte,
war Valentina umgehend aufgebrochen, um den Tatort aufzusuchen. Selbst wenn es
tatsächlich Selbstmord gewesen war, was sie nicht glaubte, erhoffte sie sich,
in der Wohnung Hinweise in eigener Angelegenheit zu finden. Immerhin hatte
Stefan Nicola den Hochzeitsschleier ihrer Mutter aufgesetzt. Es musste jemand
existieren, der ihm den Auftrag für den gestrigen theatralischen Akt gegeben
hatte, von dem er auch den Schleier bekommen hatte. Jemand, der genau wusste,
wie er Stefan benutzen konnte, ohne dass dieser ihm selbst gefährlich wurde.
Zwei ungewaschene Männer, die sich bereits ihr erstes Bier aus der
Flasche gönnten, sahen Valentina mit trübem Blick an und traten einen Schritt
zurück, um sie passieren zu lassen.
»Bundespolizei«, sagte sie bestimmt und fuchtelte kurz mit dem
Studentenausweis, den sie sich von Nicola geborgt hatte, vor der Nase der
beiden Trinker herum. So schnell hatten die ihre Augen und
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