Lost Place Vienna (German Edition)
hatte, würde sie den Rest
der Nacht auf dem Sofa im Salon schlafen.
Sie tastete sich durch den dunklen Vorraum und stutzte, als sie den
Salon erreichte. Überall flackerten Kerzen. Als hätte jemand eine Messe
gehalten, roch es nicht nur nach verbranntem Paraffin, sondern auch nach
Weihrauch. Inmitten des Raumes, auf dem Sofa, lag Nicola, das Gesicht zur Decke
gewandt, die Hände über der Brust gefaltet. In den Händen hielt sie einen
Strauß weißer Rosen. Sie sah aus wie eine Prinzessin, die man nach ihrem Tod
noch einmal hergerichtet hatte, damit sich ihr Volk von ihr verabschieden
konnte, ehe sie auf Ewigkeit in der Gruft verschwand.
Valentina schauderte. Sie ging langsam auf Nicola zu und atmete
erleichtert auf, als sie bemerkte, wie sich Nicolas Brustkorb regelmäßig hob
und senkte.
Hatte sich Nicola selbst so inszeniert? Gehörte es etwa zu ihrem
Studium, als eine Art theatralische Selbstfindung?
Erst jetzt entdeckte sie den weißen Schleier, der auf Nicolas
blondes Haar gesteckt war. Es war ein Hochzeitsschleier; und Valentina kannte
ihn. Er hatte ihrer Mutter gehört. Es war das einzige Relikt, das Valentina von
der Verbindung ihrer Eltern geblieben war. Über den Verbleib ihres leiblichen
Vaters war nie gesprochen worden. Nur der Hochzeitsschleier hatte stets an der
Wand über der Nähmaschine gehangen, hinter der Valentinas Mutter täglich ihre
Arbeit verrichtete.
»Antonella e Matteo« , las Valentina
halblaut die verblasste Stickerei. Sie verstand gar nichts mehr.
Heftig rüttelte sie Nicola am Arm, um Antworten auf ihre Frage zu
bekommen. Aber Nicola schlief tief und fest.
Valentinas Blick fiel auf Nicolas Unterarm, und sie entdeckte einen
Nadeleinstich. Jemand hatte sie betäubt. Vermutlich wusste sie gar nicht, was
man mit ihr gemacht hatte. Was wurde hier gespielt? Und warum mit ihr?
FÜNF
Parizek hasste Selbstmorde.
Es war ein Studentenzimmer, wie man es sich in den kühnsten
Klischeevorstellungen nicht ausmalen mochte. Wenn man so hauste, musste man
sich zwangsläufig über kurz oder lang umbringen.
Lediglich eine schmale Schneise führte zum Schreibtisch mit den
beiden Laptops, der Rest des Zimmers quoll über von antiquierten Büchern,
uralten Zeitschriften, benutztem Geschirr, Chipstüten, Red-Bull-Dosen,
McDonald’s-Kaffeebechern, schmutziger Wäsche und Selbstbefriedigungsutensilien
aus dem Sexshop. Nicht einmal der Geruch des Todes kam gegen den Gestank an,
der sich in diesem Zimmer wohl über Jahre eingenistet hatte.
Parizek hatte das Fenster aufgerissen und besah sich den Toten, den
die Kollegen gerade vom selbst geknüpften Henkersseil geschnitten hatten. Er
war vierundzwanzig und hatte mindestens doppelt so viel Kilogramm Übergewicht,
wie er Jahre zählte. Stefan Gruber, Student der Psychologie im vierten
Semester, geboren in Wien. Tja, und nun war er tot, merkwürdig.
Parizek lächelte zynisch. Da studiert einer Psychologie und bringt
sich um. Ein anderer wird Polizist und wechselt zu den Kriminellen. Ein
Paradoxon, das es wohl in jedem Beruf gab. Allein wenn man an die Geilheit der
Pfaffen dachte, die hinter jeder zweiten Klostermauer ihren eigenen Puff
betrieben. Ob das Paradoxon auch umgekehrt galt? Gab es Huren, die Heilige
waren? Gangster als Hüter der Gerechtigkeit? In romantischen Geschichten, ja,
aber in der Realität war Parizek nur der doppelmoralische Wechsel bekannt, der
sich nach außen schönte und von innen her faulte.
* * *
Die Studenten im Hörsaal schrieben eifrig mit. Frau Professor
Pillmann redete ohne Punkt und Komma. Nicola warf den Stift auf den
Collegeblock und hielt sich den Kopf. Es war ihr alles zu viel: die gestrige
Nacht und dann in der Früh der Anruf der Polizei. Ob sie in näherem Kontakt zu
Stefan Gruber gestanden sei. Der habe sich nämlich umgebracht. Sie saß neben
Tom und war nur mit halber Aufmerksamkeit anwesend. Vorne dozierte Frau
Pillmann über Depressionen, Nicola versuchte immer wieder, die Bilder in ihrem
Kopf zu ordnen. Was war geschehen, nachdem sie Stefan im Korridor ihrer Wohnung
gesehen hatte?
Vergebens, sie brachte den Ablauf nicht mehr zusammen.
Das Erste, dessen sie sich wieder entsinnen konnte, war das Gesicht
von Valentina. Sie war froh, dass die Polizistin vorübergehend bei ihr wohnte.
Sie wirkte so entschlossen. Eigentlich hatte Nicola zur Polizei gehen wollen,
um den Vorfall zu melden, aber Valentina hatte ihr davon abgeraten. In den
meisten Fällen würden solche Anzeigen im Sand verlaufen, hatte sie
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