Lost Place Vienna (German Edition)
unschuldigen Frauen. Sie hat ihren Kollegen und diesen
Amre nämlich nur deswegen umgebracht, weil die beiden ihr auf die Schliche
gekommen sind.«
Parizek glaubte sich verhört zu haben. Das war doch absurd.
»Da die abgetrennten Frauenköpfe Fleischhackers Fall waren, konnte
sie ihn auch verschleppen. Und die Pressekonferenz war eine geschickte Finte,
weil die Öffentlichkeit eine Verschleppung nicht länger geduldet hätte. Klingt
das plausibel?« Bauer zog die aschblonden Brauen in die Höhe. Seine graublauen
Augen wirkten dadurch noch glupschiger.
Parizek zuckte mit den Schultern. »Sehr verwegen. Aber die Presse
wird es lieben.«
»Und ich werde es lieben, wenn Valentina Fleischhacker heute Abend
pünktlich zum Verhör erscheint.«
* * *
Valentina zog eine Zeitung aus dem unbemannten Stand am Burgring
und schob ihr Fahrrad durch den Volksgarten. Jetzt, da sich der Nebel
verflüchtigt hatte, strahlte die Herbstsonne auf die Hochstammrosen. Nur wenige
Touristen tummelten sich, die Stadtstreicher teilten sich die Bänke und den
Sprit, diskutierten über Politik und den schlechten Menschen, wussten, dass es
keinen Gott gab, und bekreuzigten sich dennoch dafür, dass der Nebel gewichen
war.
Valentina lehnte ihr Rad an eine freie Parkbank, die etwas versteckt
hinter dem Pavillon lag, und setzte sich. Der Blick in die Zeitung sollte ihr
verraten, ob man offiziell nach ihr fahndete. Sie erschrak, als sie die
Schlagzeile zu Amres Tod entdeckte.
Sie überflog den Artikel. Auch ihr Name wurde erwähnt. Hubertus
hatte der Polizei vermutlich gesteckt, dass sie mit Amre in seinem Laden
gewesen war. Er konnte sie nicht leiden, und Amre war einer seiner Lieblinge
gewesen.
Es wäre ein Kinderspiel, ihr nach dem Mord an Zirner auch Amres Tod
anzuhängen. Immerhin wurde ihr Fall noch intern behandelt. Solange die
Öffentlichkeit davon nichts Größeres erfuhr, hatte sie sich zumindest nur vor
Parizek in Acht zu nehmen. Und vor Il Cervello. Aber dann stünde sie mit
einem Mal auf ganz anderen Schlachtfeldern. Sie begriff, dass jemand den Druck
erhöhte. Und sie ahnte, dass sie in der nächsten Ausgabe der Zeitung ihren
Namen noch dicker lesen würde. Dann würde sie ganz abtauchen müssen.
Sie kramte das Überraschungsei aus ihrer Jackentasche und nahm die
Madonna heraus. Der Kopf fiel wieder ab, und sie setzte ihn behutsam darauf. »… sei benedetta fra le donne« , begann sie auf
Italienisch das Ave-Maria zu beten. Il Cervello wusste, wie man Menschen
mürbe machte. Und er nahm sich einen großen Anlauf. Er manipulierte so lange,
bis man von allein tat, was er wollte. Nicht unter Zwang, sondern aus freiem
Willen zur Sache sollte man dienen.
Er hatte Grubers heimliche obsessive Liebe zu Nicola benutzt, um
Valentina ein weiteres Zeichen zu geben: den Hochzeitsschleier ihrer Mutter. Er
hatte auch gewusst, dass sie daraufhin Stefan aufsuchen würde, und dieser
musste sterben, weil er seine Schuldigkeit getan hatte. Er berechnete jeden
ihrer Schritte im Voraus. Er wusste, wie sie tickte.
Allmählich wurde es Zeit, dass auch sie mehr von ihm erfuhr. Das
konnte sie aber nur, wenn sie sich weiterhin auf sein Spiel einließ. Hatte sie
denn eine andere Wahl?
Sie blickte auf den Zettel mit den errechneten Koordinaten des
nächsten Caches und war entschlossen, den Ort aufzusuchen. Zuvor musste sie
allerdings noch in die Porzellangasse. Sie wusste, dass sie dort nicht mehr
lange sicher sein würde.
* * *
Nicola schrak hoch, als es an der Tür läutete. Die Tasse mit dem
Kaffee glitt ihr aus den Händen und zerbarst auf dem Kachelboden der Küche, die
hellbraune Flüssigkeit spritzte Tupfer gegen die Küchenzeile. Nicolas Herz
raste, sie rang nach Atem und musste sich hinsetzen. Sie würde niemandem
öffnen. Valentina hatte einen Schlüssel, und alle anderen konnten ihr gestohlen
bleiben.
Sie lauschte, hörte die vorbeifahrende Straßenbahn, ein paar Autos
und von ferne die Sirene einer Ambulanz. Sie wohnte in der Nähe des
Krankenhauses, da waren lärmende Krankenwagen Alltag. Jetzt aber suggerierte
die Sirene, dass man sie holen wollte. Man wollte sie einsperren, weil sie
krank war, nervlich am Ende. Valentina hatte ihr geraten, nicht zur Polizei zu
gehen, sie würde sich selbst um die Angelegenheit kümmern. Aber worum wollte
sie sich kümmern? Stefan war doch schon tot. Nicola durfte nichts mehr
verschleppen, sie musste in Behandlung. Eine Polizistin konnte ihr dabei nicht
helfen. Sie brauchte psychologische
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