Lost Place Vienna (German Edition)
mehr so selbstbestimmt setzte, wie sie es sich wünschte. Jemand
glaubte sie dirigieren zu können. Und er lag damit nicht falsch. Aber wenn man
sich der Fäden bewusst war, konnte man die Freiheit innerhalb der Beschränkung
suchen.
Valentina drehte die Karte um und las den mit violetter Tinte
geschriebenen Text:
So findet sich auch, wenn die Erkenntnis
gleichsam durch ein
Unendliches gegangen ist, die Grazie
wieder ein; so, dass sie, zu
gleicher Zeit, in demjenigen
menschlichen Körperbau am
reinsten erscheint, der entweder gar
keins oder ein unendliches
Bewusstsein hat, das heißt in dem
Gliedermann oder in dem
Gott. Mithin müssten wir wieder vom
Baum der Erkenntnis
essen, um in den Stand der Unschuld
zurückzufallen?
Das Geheul einer Polizeisirene ließ Valentina hochschrecken. Sie
musste von der Straße. Mit dem Text würde sie sich später auseinandersetzen.
Sie stellte die Koordinaten des ermittelten Caches ein und folgte der Richtung,
die ihr das GPS wies. Der Ort musste ganz in der
Nähe sein.
* * *
Alberto hatte befürchtet, dass er erst einmal einigen Junkies
Beine machen müsste, aber so weit er es einschätzen konnte, hatte sich hier
niemand ein Plätzchen für verbotene Träume gesucht. Es war ein Stück
Niemandsland zwischen der Großbaustelle des Südbahnhofs und Simmering. Ein
alter Flügel des historischen Waffenarsenals, der leer geräumt worden war und
nun darauf hoffte, gewerblich genutzt zu werden. Man hatte das Gelände
vorsorglich mit zwei Meter hohen Zäunen abgesperrt, warnende Verbotsschilder,
die das Betreten verhindern sollten, inbegriffen.
Das scherte Alberto ebenso wenig wie die Klingen des
Seitenschneiders, die sich knirschend durch die Kette eines Vorhängeschlosses
bissen. Alberto drückte das Gitter auf und verbarg das Werkzeug in einem
wildwüchsigen Eibenstrauch. Dann schulterte er die noch immer ohnmächtige
blonde Schönheit, die er für einen Moment im Gebüsch abgelegt hatte, und schlich
mit ihr über das Gelände.
Er stieß mit dem Fuß an einige leere Bierflaschen, die klimpernd
davonrollten. Also schien man hier doch hin und wieder Veranstaltungen
abzuhalten. Alberto lauschte. Von der Straße waren die Motorgeräusche
vorbeifahrender Autos zu hören, ansonsten war es still, wenn man das Kläffen
zweier Köter außer Acht ließ, die sich irgendwo in Richtung Schweizer Park wohl
einen Gassistreifen streitig machten. Der Nebel begann sich wieder aus dem
Nichts durch die frühe Nacht zu schleichen. Alberto vermutete, dass er aus der
Kanalisation kroch und dort auch hauste. Wie sonst hätte er so schnell alles in
dumpfes Milchglas hüllen können? Er hasste den Nebel. In London, wo er so
berüchtigt sein sollte, war Alberto nie gewesen. Aber er kannte den Veneto. Das
genügte ihm völlig. Nebel war schlimmer als Schnee. Auf den Schnee konnte man
seine Gedanken projizieren, der Schnee gab etwas zurück. Der Nebel schluckte
einfach nur, tat so, als würde man gar nicht existieren, drang durch einen
hindurch, verbündete sich mit den Wassern des eigenen Körpers und weichte von
innen her das Gemüt auf.
Il Cervello würde es freuen. Die klamme Stimmung käme ihm
gelegen. Es machte das Drama eindringlicher.
Alberto trug die Hauptrequisite des heutigen Stücks wie einen zusammengerollten
Teppich geschultert ins Gemäuer. Dabei genoss er es, seine Hand fest auf ihren
durchtrainierten Hintern zu pressen, damit sie ihm nicht wegrutschte.
Er schrak zurück. Im hinteren Teil der leer geräumten Halle
flackerte Licht. Er konnte nicht erkennen, ob dort jemand war. Ein gigantischer
Metallboiler versperrte ihm die Sicht. Aber er musste wissen, was sich dort
abspielte, er konnte keine ungeladenen Zuschauer gebrauchen. Das Billett für
den Abend war zu teuer, Parkett gab es nicht. Nur den raschen Tod konnte man
finden, wenn man es nicht anders haben wollte.
Alberto setzte seine blonde Puppe in eine Ecke, überzeugte sich
davon, dass sie noch immer fest schlief, und schlich in die Richtung des
flackernden Lichts. Vorsichtig näherte er sich, lediglich mit den Zehenspitzen
über den staubigen Boden der Halle tastend. Er war nun schon nahe an dem mit
Hammerschlag lackierten Boiler und drückte sich an ein Ventilrad. Es war nichts
zu hören. Vielleicht hatten sie ihn bereits entdeckt und waren ihrerseits in
Stellung gegangen? Alberto zog seine Glock und entsicherte sie. Es graute ihm
davor, von ihr Gebrauch zu machen. In dieser Halle würde jeder Schuss wie
Donner hallen.
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