Lost Place Vienna (German Edition)
Trotzdem, wenn es sein müsste, würde er schießen. Er schlich mit
Überkreuzschritten um den Boiler herum, legte die Glock an und zielte in den
beleuchteten Raum. Es war niemand zu sehen. Auf dem Boden standen lediglich
zwei leere Weinflaschen, auf die jemand Kerzen gesteckt hatte.
Alberto schnellte herum, weil er einen Angriff von hinten erwartete.
Aber es war niemand da, der ihn hätte anfallen wollen. Er drehte sich wieder in
den Raum.
Die Kerzen waren noch sehr lang. Sie mussten gerade angezündet
worden sein. Er blickte sich um und entdeckte eine Holzkiste. Alberto näherte
sich ihr und öffnete den Deckel, der leicht versetzt auf dem Rand saß. Die
Kiste war mit Seilen und Schnüren gefüllt. Erleichtert steckte er die Glock
ein. Er hatte sich nur um die Blonde und die Inszenierung zu kümmern. Und
natürlich um Valentina. Das war schon mehr als genug. Da war es nur effizient,
dass die Requisiten für das bevorstehende Spektakel von anderen besorgt wurden.
Er blickte auf seine Armeeuhr. Die Ansage war, dass er bis
spätestens zwanzig Uhr alles durchgezogen haben musste.
Alberto kramte die Seile aus der Kiste, entwirrte sie und legte sie
nebeneinander aus. Er würde die Puppe ordentlich auffädeln, sodass die Wirkung
auf Valentina nicht ausbliebe.
Jetzt war es an der Zeit, die Blonde ins Spiel zu bringen. Alberto
ging um den Boiler herum und steuerte auf die Stelle zu, an der er sein Opfer
abgelegt hatte.
Sie war verschwunden.
* * *
Nicola tastete sich durch das Dunkel der Halle und versuchte,
dabei kein Geräusch zu machen. Sie hätte schreien wollen, dass die Glasscheiben
der vergitterten Fenster splitterten. Aber die Töne explodierten nur in ihrem
Kopf, drängten sich in ihrer Kehle und versperrten sich gegenseitig den
Ausgang. Ebenso stritten sich die Gedanken darum, Tat zu werden. Sich
verstecken? Fliehen? Wo? Wohin? Wer waren die Typen, die sie am helllichten Tag
ins Auto gezerrt und hierherverschleppt hatten? Stefan war doch tot. Gab es
noch andere Perverse, die hinter ihr her waren?
Das Licht einer Taschenlampe durchschnitt die finstere Halle.
Nicola japste und hielt sich selbst den Mund zu, um nicht im
falschesten aller Momente zu kreischen.
Der Strahl der Lampe glitt an der Mauer entlang und näherte sich ihr
tastend. Sie wusste, sie würde verbrennen, wenn sie der Lichtkegel traf. So
musste Laser sein: Er traf, und alles war aus. Aber noch war Platz zwischen ihr
und dem Licht. Sie betete, trippelte winzige Schritte zur Seite, bis sie sich
in einer Ecke eingezwängt fand, schloss dann die Augen und hielt den Atem an.
Der Lichtstrahl züngelte auf Nicolas Füße. Er kitzelte; sie wollte lachen, aber
das Licht war schneller. Es raste von Nicolas Füßen die Beine hinauf, flog über
den Körper und würgte am Hals, sodass jeder Laut erstickt wurde, ehe er nur
gedacht werden konnte. Jetzt blendete das halogene Weiß ihr direkt in die
Augen. Sie konnte geradezu spüren, wie ihre Pupillen nach einem Versteck
suchten, um der drohenden Blendung zu fliehen.
»Nicola. Was machst du denn hier?«, drang eine Stimme durch die
weiße Wand. Nicola erkannte sie, noch ehe das Licht von ihr genommen wurde.
Jetzt sah sie Valentina auch, die sich selbst von unten anstrahlte, um sich zu
erkennen zu geben.
Nicola wollte reden, wollte erzählen, jauchzen, weinen, schreien,
alles gleichzeitig. Aber jeder Ansatz stritt sich mit dem anderen, sodass sie
zu zittern begann. Das Zittern wuchs zu einem Beben, das Beben zu einem lang
gezogenen Schrei des Grauens.
* * *
Alberto hörte den Schrei und realisierte, dass er in die falsche
Richtung gelaufen war. Er hatte vermutet, dass die Blonde den direkten Weg nach
draußen gesucht hatte, aber der Schrei kam aus der entgegengesetzten Richtung.
Alberto spurtete durch die dunkle Halle. Seine Augen waren es
gewohnt, im Dunkeln zu funktionieren. Seine Füße ebenfalls. Und nur deswegen
war es ihm möglich, so abrupt abzubremsen, als er bemerkte, dass die Blonde nicht
mehr allein war.
Er erkannte Valentina sofort und zog sich rasch hinter das Gemäuer
des Halleneingangs zurück. Alberto verfluchte sich. Er war zu langsam gewesen
und hatte die Chloroformdosierung überschätzt. Das Blondchen musste wohl
bereits andere Medikamente zu sich nehmen, dass sie nur so kurz auf das
Betäubungsmittel reagiert hatte. Wie auch immer, er war nicht dazu gekommen,
die Puppe an Fäden aufzuhängen. Aber außer ihm wusste das niemand. Er bräuchte
die kleine Panne nicht zu melden.
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