Lost Place Vienna (German Edition)
für die war der Auftrag erledigt. Für ihn
hingegen noch lange nicht. Er war immer im Einsatz. Es hatte sich rasch
herumgesprochen, dass er saubere Arbeit lieferte. Der eine empfahl ihn dem
Nächsten, und so war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis auch Il Cervello
auf ihn aufmerksam geworden war.
Es war nun schon das vierte gemeinsame Projekt, getroffen hatten sie
sich allerdings noch nie. Danach stand Alberto auch gar nicht der Sinn. Er
wollte am Leben bleiben. Und nicht nur das. Er wollte weiterleben wie bisher,
auch wenn es kein Privatleben mehr für ihn gab. Aber das tat ihm ganz gut. Denn
wenn er an sein einstiges Privatleben zurückdachte, packte ihn das Grauen. Er
war jetzt dreiundvierzig. Zeit genug für zwei Scheidungen und vier kreischende
Kinder. Die krochen jetzt vermutlich irgendwo in Duisburg-Bruckhausen durch die
pädagogischen Anstalten, die schon ihm nicht hatten helfen können. Und
irgendwann, wenn es nicht sogar jetzt schon so weit war, hätten auch sie
ständig die Polizei am Hals. Und sie schissen bestimmt auf einen Vater, der
sich so dreckig aus dem Staub gemacht hatte wie er. Immerhin glaubten alle, die
ihn einmal gekannt hatten, er sei bei einem Autounfall in Sizilien ums Leben
gekommen. Und er trauerte keinem einzigen Menschen seiner Vergangenheit nach.
Alberto sah auf die langen Beine der Blonden und strich mit der Hand
über die transparente Nylonstrumpfhose. Vielleicht würde sie es gar nicht
merken, wenn er sie jetzt nahm? Sie war noch immer bewusstlos. Alberto lachte
dreckig, als er daran dachte, dass sein harter Schwanz sie schon wecken würde.
Aber er beließ es bei der schmutzigen Phantasie. Die Kleine sollte so lange wie
möglich unversehrt bleiben, Ansage von oben. Jetzt war erst einmal dramatische
Inszenierung angesagt. Für Alberto war das nichts Neues. Il Cervello
liebte Theater. Es gehörte zu seinem Arbeitsstil. Alberto verstand wenig davon,
aber er führte aus, was die Regie verlangte. Und die nächste Vorstellung galt
Valentina. Wenn sie denn kommen würde. Aber warum sollte sie nicht? Das Hirn
hatte alles so eingefädelt, dass sie nur diese Option hatte. Sie würde kommen.
Vielleicht schon bald. Alberto musste sich beeilen.
* * *
Valentina hatte sich mehrmals umgesehen. Sie wurde nicht
verfolgt, da war sie sich sicher. Jetzt, im Schein einer Straßenlaterne, hielt
sie kurz inne und kramte in dem Rucksack. Neben dem GPS holte sie den Brief hervor, den sie von dem verrückten Hundewitwer bekommen
hatte. Er war an sie adressiert, aber ohne Absender.
Sie riss den Umschlag auf und zog eine Postkarte heraus. Eine
sizilianische Marionette lächelte sie an. Es war ein Soldat. In der linken Hand
trug er einen Schild, in der rechten ein langes Schwert. Auf dem Kopf thronte
ein schmucker Helm, verziert mit einem grünen Federbusch. Der Soldat hatte ein
langes ovales Gesicht, rote Wangen, einen braunen Spitzbart und kornblumenblaue
Augen. Er lächelte nicht, grollte aber auch nicht. Er schien zu lauern,
abzuwarten, was als Nächstes geschehen würde. Er konnte ohnehin nicht selbst
handeln, musste sich gedulden, bis jemand an seinen Fäden zog, die ihn zur Tat
zwangen.
Das sizilianische Marionettentheater war berühmt, weltberühmt. Die UNESCO hatte es 2001 sogar in die Liste der
»Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit«
aufgenommen.
Valentina verband aber viel mehr damit. Es war ihr geliebter
Großvater gewesen, der sie in die Welt der Puppen eingeführt hatte. Er war ein
großartiger Marionettenspieler gewesen, hatte altbekannte Stücke gespielt, aber
auch neue Geschichten erfunden. Alltagsbegebenheiten, die Valentina und ihm auf
dem Weg zum Markt widerfahren waren, lustige kleine Anekdoten. Nur einmal, als
ein Orangentransporter in einen Eselskarren gerast war, war es traurig
geworden. Valentina hatte das Bild des in den Blutorangen verendenden Esels nie
vergessen können. Und ihr Großvater hatte es nachgespielt. Er hatte dafür extra
einen Esel gebaut und ihm eine Stimme gegeben. Und Valentina hatte an die
letzten Sätze des Esels denken müssen, als ihr Nonno vor ihren Augen erschossen
worden war. Seitdem hatte sie nie mehr eine Marionette angefasst. Schon gar
nicht den Soldaten, der für die gerechte Sache kämpfen sollte und doch nur an
den Fäden unsichtbarer Mächte hing.
Sie hatte sich immer dagegen gewehrt, dass man sie an Fäden knüpfte.
Und das würde sie weiterhin so halten. Auch wenn sie spürte, dass sie ihre
Schritte nicht
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