Lost Princesses 02 - Ketten Der Liebe
Ihr Blick wanderte wieder zu ihm, und für eine Irrsinnige sah sie auffallend klar aus. »Seither lebe ich hier. Wissen Sie, wo Beaumontagne liegt, Mylord?«
»Ich glaube, ja. Es müsste in den Pyrenäen liegen, zwischen Spanien und Frankreich.« Es war gar nicht so leicht, mit dem Messer im Ärmel zu essen, aber er spießte das Würstchen mit der Gabel auf und biss davon ab. Warum sollte er sich hier Gedanken um Tischmanieren machen? Schließlich hatte er eine eiserne Fessel um einen Fußknöchel.
»Ihre Geografiekenntnisse sind doch besser, als ich befürchtet hatte.« Miss Victorine vertiefte sich in die schwierige Arbeit, Spitze mit Perlstickerei zu versehen.
Als der große Hunger gestillt war, sah Jermyn der alten Dame bei der Handarbeit zu. Er erinnerte sich an das Geräusch, das die Spitze des Weberschiffchens an der Garnrolle erzeugt, und blickte auf Miss Victorines Handrücken, auf dem sich die Adern und Altersflecken abzeichneten. Ihr kleiner Finger war merkwürdig angewinkelt, und die Haut wirkte dünn und lederartig, aber Miss Victorine arbeitete an der Perlstickerei, ohne auf ihre Hände zu schauen.
Der dünne Streifen Spitze nahm langsam an Länge zu.
»Ich legte Ihrem Vater ans Herz, er müsse Ihnen mehr beibringen als Tanzschritte oder die Wahl des richtigen Kelchs bei Tisch.« Sie schenkte ihm ein liebevolles Lächeln.
Jermyns Erziehung war weitaus umfassender gewesen, aber er fragte neugierig: »Das haben Sie getan? Was hat mein Vater erwidert?«
»Dass es für einen Marquess von Northcliff ausreiche, Rang und Stammsitz im eigenen Land zu kennen.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Wenn Ihr Vater einen Fehler hatte, dann war es dieses Übermaß an Stolz.«
»Ich würde es nicht als Übermaß bezeichnen«, sagte Jermyn steif. Sein Vater war zwar stolz gewesen, aber stets großzügig gegenüber seinen Pächtern. Jeden Mann, der auf seinem Anwesen arbeitete, kannte er mit Namen, und am Vorabend des Dreikönigtags sorgte er immer persönlich dafür, dass die Untergebenen kleine Geschenke erhielten. Diese Pflichten hatte nunmehr Onkel Harrison übernommen.
Zum ersten Mal fragte Jermyn sich, was sein Vater wohl dazu gesagt hätte.
»Es tut mir leid. Sie vermissen ihn immer noch«, sagte Miss Victorine mit einer Gewissheit, die Jermyn dazu veranlasste, ein wenig unruhig auf der Matratze hin- und herzurutschen. »Bitte verstehen Sie meine Gedankenausflüge nicht falsch. Ich habe das Gefühl, dass ich mich mit Ihnen über Ihren Vater unterhalten kann. Ich bewunderte ihn. Er war ein guter Mensch. Auch ich vermisse ihn, und ich empfinde es als Trost, mich mit jemandem auszutauschen, der ihn liebte. Gewiss, Sie liebten ihn wie ein Sohn, und ich liebte wie ein Sohn ... nein.« Sie zog die Stirn in Falten. »Das ist verkehrt. Sie liebten ihn, wie ein Sohn seinen Vater lieben sollte, und ich liebte ihn, als wäre er mein Sohn. So ist es richtig!« Sie hob ihr Weberschiffchen triumphierend hoch. »Ich wusste doch, dass ich es korrekt ausdrücken kann.«
»Das haben Sie.« Jermyn war bemüht, eine Woge der Zuneigung zu unterdrücken. Sie war eine liebenswerte alte Dame. Sofort versuchte er, sich in Erinnerung zu rufen, dass sie an seiner Entführung beteiligt war, aber auch das tat seinen Gefühlen keinen Abbruch. Die Wahrheit war, dass auch er gern an seinen Vater dachte, und inzwischen gab es nicht mehr allzu viele Leute, die sich noch an ihn erinnerten.
Jermyn konnte mit Onkel Harrison über Vater sprechen, aber sein Onkel schien nur an den Zahlen auf dem Papier und den Einkünften der Besitztümer interessiert zu sein.
Daher war diese ganze Geschichte mit der »gestohlenen Perlstickerei-Maschine« geradezu lächerlich. Onkel Harrison mochte zwar nicht den Titel besitzen, aber er begriff sicherlich, welche Würde dem Stand eines Marquess von Northcliff innewohnte. Allein deshalb würde er sich nie mit den Dingen des gemeinen Manufakturwesens abgeben.
»Vielleicht wäre Ihre Erziehung abgerundeter gewesen, wenn Ihre Mutter nicht so früh von uns gegangen wäre.« Miss Victorine schien zu sich selbst zu sprechen. »Andriana hatte gewiss eine genaue Vorstellung von Ihrer Erziehung. Hätte Ihr Vater ein wenig mehr auf sie gehört, dann ...«
»Entschuldigen Sie, Miss Victorine, aber ich möchte nicht über meine Mutter sprechen«, sagte Jermyn mit sanfter Stimme und wunderte sich im selben Augenblick, dass seinen Worten der Zorn fehlte, der nach all den Jahren in ihm schwelte. »Nicht einmal mit
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