Lost Princesses 02 - Ketten Der Liebe
Feindseligkeit und dem Zynismus der Menschen bewahrt.
Amy würde alles für die alte Dame tun.
»Diese ganze Aufregung hat mich erschöpft.« Miss Victorine lächelte zögerlich.
»Ich weiß. Es tut mir leid.«
»Das braucht Ihnen nicht leidzutun, meine Liebe! Ab und an tut es einer alten Frau ganz gut, wenn der immer gleiche Tagesablauf ein wenig durcheinandergerät. So kommt der Kreislauf in Schwung. Und der Geist bleibt wach.« Miss Victorine tippte sich an die Stirn.
»Ich denke, Ihr Geist könnte klarer nicht sein.«
»Ja, mein Vater sagte immer, ich sei sein gescheitestes Kind.« Ein zufriedenes Lächeln umspielte Miss Victorines faltige Mundwinkel. »Aber hätten Sie meine Brüder gekannt, wüssten Sie, dass das nicht unbedingt ein Kompliment war.«
Amy lachte, wusste sie doch, dass Miss Victorine es gern sah, wenn sie lachte.
»Dieser Raum gefällt mir wirklich.« Die alte Dame schaute sich um und schloss die Augen mit einem verträumten Lächeln.
Auch Amy schaute sich um. Die dicken, ehemals tiefblauen Vorhänge waren verblasst. Auf den Tapeten ließen sich die einstigen Blumenmuster nur noch erahnen, und selbst die dunkel umrandeten Stellen, an denen früher einmal Bilder gehangen hatten, waren kaum noch auszumachen. Das weiße Federbett war vergilbt, und die Daunen darin waren zu einem dünnen Flaum verkommen. Die Holzdielen waren über die vielen Jahre abgelaufen, und unter die schlimmsten undichten Stellen an der Zimmerdecke hatte Amy Töpfe gestellt.
Aber dies war noch immer Miss Victorines Zuhause.
Amy ließ den Blick zu dem lieben, rundlichen Gesicht wandern, das auf den Kissen ruhte. Miss Victorine hatte zwar gesagt, es wäre gut, wenn ihr Tagesablauf einmal gehörig durcheinandergeriet, aber Amy wollte ihr das nicht abnehmen.
Miss Victorine wollte - musste - in der gewohnten Umgebung bleiben, in der sie aufgewachsen war. Als Amy ihr den tollkühnen Plan unterbreitet hatte, hatte Miss Victorine nichts von den Möglichkeiten hören wollen, die sich ihnen nach der Straftat auftaten. Da hatte Amy noch so viel reden können, Miss Victorine hatte ihre Meinung nicht geändert.
Sooft sie gemeinsam überlegt hatten, was sie mit dem Lösegeld machen könnten, hatten sie sich ein Leben in Italien ausgemalt, in einer Villa. Oder in einem Landhaus in Griechenland oder Spanien. Irgendwo dort, wo es warm war, wo Orangenbäume hinter dem Haus wuchsen und Miss Victorines Knochen von der Kälte nicht mehr schmerzen würden. Aber die ganze Zeit ahnte Amy, dass Miss Victorine hier in dem alten Haus mit den verblichenen Tapeten bleiben würde, bei den Nachbarn, die sie schon ihr ganzes Leben kannte.
Amy konnte solche Sentimentalitäten nicht nachvollziehen. Seit ihrem zwölften Lebensjahr hatte sie die Straßen und Wege von England und Schottland kennengelernt. Die Vorstellung, das Herz an ein festes Zuhause zu hängen, war ihr fremd. Und sie unternahm gar nicht erst den Versuch, sich in Miss Victorine hineinzuversetzen.
Schließlich deckte sie die alte Frau sorgsam zu, drückte ihr noch einen Kuss auf die Stirn und ließ die gute Seele schlafen.
In ihrem Schlafgemach benetzte Amy ihr Gesicht mit kühlem Wasser, um innerlich zur Ruhe zu kommen. Sie hatte sich absichtlich für die ehemalige Unterkunft des Hausmädchens entschieden, da dieser Raum an Miss Victorines Zimmer grenzte. Amy wollte nah bei ihr sein, falls Miss Victorine einmal Hilfe brauchte. Nicht, dass die Dame des Hauses von ihr abhängig gewesen wäre; sie war eine lebhafte alte Frau und noch kein bisschen verwirrt, auch wenn sie bisweilen etwas verschroben war. Aber man konnte nie wissen.
Aber das kühle Wasser half Amy nicht.
Dieser Mann hatte Miss Victorine ein Messer an die Kehle gehalten! Und während sie noch vor Wut kochte, wenn sie nur daran dachte, wie rücksichtslos der Marquess Miss Victorine behandelt hatte, wurde ihr schlagartig bewusst, wie riskant ihr Vorhaben gewesen war. Sie hielt einen gefährlichen Mann im Keller gefangen, und wenn sie einen Fehler machte, würde sie sich selbst und die Dame des Hauses ins Unglück stürzen. Sie war bereit, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, aber die liebenswerte alte Miss Victorine durfte sie nicht in Gefahr bringen.
Sie ging in die Küche und schaute sich um. Der Raum war genauso schäbig wie das Schlafzimmer. Der Holztisch war schon so oft mit Sand abgerieben worden, dass sich in der Mitte eine Senke gebildet hatte. Durch die große, offene Feuerstelle blies im Winter der kalte
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