Louisiana-Trilogie 2 - Die noble Straße
schon zwanzig Jahre am Fluß. Er mag jetzt gut und gern zwanzig Millionen Sekundenfüße führen.«
»Sekundenfüße? Was ist das?«
»Soundso viel Kubikfuß Wasser in der Sekunde. Halt dich jetzt nicht weiter auf! Schlepp die Pfähle hoch!«
»Jawohl, Herr! Faulenzen wollte ich nicht.« Fred rannte den Damm hinunter.
Die Werkleute, die die Pfosten in die Erde rammten, arbeiteten langsam und zäh im Takt. Fred fragte sich, ob sie wohl ebenso müde waren wie er selbst. Er hatte vor Müdigkeit längst vergessen, wie lange er schon hier aushielt; es kam ihm vor, als hätte er überhaupt nicht geschlafen, seit er am Abend jenes Wandertages über die Felder zum Damm gestolpert war. Man kam ja nur zum Schlafen, wenn man sich beim besten Willen nicht mehr auf den Beinen halten konnte; doch fand man kaum Erholung in solchem Schlaf: man wurde getreten und wurde naß vom Regen. Der Regen rann den Männern aus dem Haar in die Augen, und jeder zweite war erkältet. Immer wieder mußte dieser oder jener nach Hause geschickt werden, wenn er vor Frost schauerte oder im Fieber glühte; der ewige Regen ging den Männern schwer auf die Nerven.
Fred blieb gesund. Er war zähe; ihn focht nichts an. Er hatte sich vorgenommen auszuhalten, bis der Flutberg abschwoll. Die Frauen hatten versprochen, den Männern ein gewaltiges Festessen zu geben, Hühnerbrühe und Schweinebraten, wenn es ihnen gelang, den Damm zu retten. Danach dann wollte die Regierung einige gelehrte Deichbaumeister aus Washington senden, einen ganz und gar neuen Damm zu entwerfen; denn der alte, abgenutzte überstand kein weiteres Hochwasser mehr. Sich bei einem Festtagsessen ordentlich vollzustopfen, das wäre eine feine Sache; aber der Stolz, der sie alle erfüllen würde, der hätte einen anderen Grund. Stolz würden sie sein, daß sie den Fluß geschlagen hatten. Gott im Himmel, was war das für ein Fluß! Fred war so müde, daß alle seine Glieder und Muskeln ächzten vor Schmerzen. Aber nachgeben oder aufhören zu arbeiten, nein, das wollte er nicht! Er wollte den Fluß in seine Schranken verweisen, und wenn es ihn umbrachte.
Als er die Pfähle herbeigeschleppt hatte, wurde ihm aufgetragen, Bretter zu holen. Dann hatte er schwere Ladungen großer Nägel heranzutragen und schließlich wieder die ewigen Sandsäcke. Freds Füße waren wund überall und zerschunden; Schweiß rann ihm übers Gesicht und unter dem Hemde den Leib hinunter. Und über dem Geschrei der Männer vernahm er unaufhörlich, wie die Strömung heulend meerwärts tobte. Seltsam war das und erschreckend. Gewöhnlich glitt der große Mississippi in vollkommenem Schweigen dahin. Die wilden Laute, die ihm jetzt entstiegen, hatten triumphierenden Klang. Fred überraschte sich dabei, daß er unaufhörlich betete, während er den zerstampften Hang auf und nieder kletterte, auf und nieder.
»O Gott, ich bitte dich, lasse den Deich nicht brechen! Laß ihn nicht brechen, lieber Gott! Wir tun unser Bestes. Mehr können wir nicht. Wir wollen Tag und Nacht arbeiten – es kommt uns nicht darauf an; aber laß den Damm nicht zerbrechen, ich bitte dich! Ich bitte dich, laß ihn fest stehenbleiben, Herr im Himmel! Wenn du den Damm nicht brechen läßt, so will ich von jetzt ab jeden Sonntag zur Kirche gehen und will nicht mehr jammern, daß ich keine Schuhe habe, und will meine Bibelverse lernen und nicht mehr mit Murmeln spielen und auch nicht mehr wetten, solange wie ich lebe. Ich bitte dich, lieber Vater im Himmel, laß den Deich halten! Wir haben uns wirklich alle ehrlich abgeschuftet, sosehr wir nur konnten. Bitte, laß den Deich bestehen! Bitte, laß ihn nicht zerbrechen. Bitte, Herr im Himmel, bitte …!«
Unter seinen Füßen schien die Erde zu erschauern; tief in ihrem Innern murrte es seltsam; und das Murren ward überdeckt von einem widerlich saugenden Geräusch. Der Sandsackwall bewegte sich leise. Die Männer auf dem Deich schickten plötzlich ein Geheul zum Himmel, das nichts Menschliches mehr an sich hatte, ließen Hammer und Pfähle und Säcke fallen und fingen an zu laufen, brüllend wie wilde Tiere, sich überstürzend und wieder aufraffend, während sie auf der Krone des Deiches nach beiden Richtungen auseinanderströmten, einen leeren Raum des Schreckens zwischen sich öffnend. Fred fühlte sich bei der Schulter gepackt und von Mr. Vance vorwärts gestoßen. Der Stoß war sehr heftig; er taumelte zu Boden, sprang wieder auf und rannte, was das Zeug hielt. Unterhalb des Deichs brüllte
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