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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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scheint?«
    Diese mußte schon die Dreißig überschritten haben; sie war sehr brünett mit einem schmalen Gesicht, feinen, müden Zügen und prachtvollen Augen, die glühenden Kohlen glichen, über welche für Augenblicke ein Schimmer huschte, der sie auszulöschen schien. Sie war auf den ersten Blick nicht schön. Je länger man sie aber betrachtete, um so berückender, sieghafter und begehrenswerter wurde sie. Übrigens bemühte sie sich, so unbeachtet wie möglich zu bleiben, war sehr bescheiden und zurückhaltend, kleidete sich immer schwarz und trug nie Schmuck, obgleich sie die Frau eines Pariser Diamantenhändlers war.
    »Oh«, flüsterte sie, »wenn man mich nur nicht allzusehr hin und her stößt, bin ich zufrieden.«
    Sie war schon zweimal nach Lourdes gegangen als Pflegerin, aber man sah sie dort niemals in dem Hospital Notre-Dame des Douleurs, da sie jedesmal nach der Ankunft von einer solchen Abspannung ergriffen wurde, daß sie, wie sie sagte, sich gezwungen sah, das Zimmer zu hüten.
    Frau von Jonquière zeigte sich ihr gegenüber von liebenswürdiger Nachsicht.
    »Oh, mein Gott! Sie haben jetzt Zeit, sich auszuruhen. Schlafen Sie doch, wenn Sie können. Wenn ich mich nicht mehr aufrechthalten kann, wird auch die Reihe an Sie kommen.«
    Dann wandte sie sich an ihre Tochter.
    »Du, mein Liebling, wirst guttun, dich nicht zu sehr aufzuregen, wenn du deinen Kopf freihalten willst.«
    Aber Raymonde sah sie vorwurfsvoll an und sagte lächelnd:
    »Mama, Mama! Warum sagst du mir das... Bin ich denn ein unvernünftiges Kind?«
    Sie brauchte sich nicht zu rühmen, denn ein starker Wille und der feste Entschluß, sich ihr Leben selbst zu gestalten, sprach aus den grauen Augen und leuchtete aus ihrem jugendlich unbekümmerten Wesen und der lauten Freude am Leben hervor.
    »Es ist wahr«, gestand die Mutter etwas verwirrt, »dieses kleine Mädchen hat zuweilen mehr recht als ich... Bitte, gib mir jetzt das Kotelett her! Gott im Himmel, was hatte ich für einen Hunger!«
    Das Frühstück nahm seinen Fortgang, durch das Lachen der Frau Desagneaux und Raymondens erheitert und gewürzt. Diese lebte ordentlich auf, und ihr Gesicht, das schon etwas verblüht war, bekam die rosige Farbe des zwanzigsten Jahres wieder. Man nahm doppelte Bissen, denn man hatte nur noch zehn Minuten. In dem Saale herrschte jetzt ein noch größerer Lärm als vorher, da die Gäste fürchteten, keine Zeit mehr zum Kaffee zu haben.
    Da erschien Pierre. Die Grivotte hatte einen neuen Erstickungsanfall bekommen. Frau von Jonquière verzehrte rasch ihre Artischocke. Dann kehrte sie zu ihrem Wagen zurück, nachdem sie vorher ihre Tochter umarmt hatte, die ihr heiter und unter Scherzworten gute Nacht sagte. Inzwischen hatte der junge Priester, als er Frau Volmar mit dem roten Kreuz auf ihrem schwarzen Kleide erblickte, seiner Verwunderung Ausdruck gegeben, sie hier zu finden. Er kannte sie, denn er besuchte, wenn auch selten, die alte Frau Volmar, die Mutter des Diamantenhändlers, eine alte Bekannte seiner Mutter. Sie war ihm die schrecklichste aller Frauen und von einer solch übertriebenen Frömmigkeit und Strenge, daß sie die Fensterläden stets geschlossen hielt, damit ihre Schwiegertochter nicht auf die Straße sehen konnte. Er kannte ihre Geschichte: seit dem Tage nach ihrer Hochzeit lebte die arme junge Frau wie eine Gefangene zwischen ihrer Schwiegermutter, die sie terrorisierte, und ihrem Manne, der in seiner Eifersucht so weit ging, sie zu schlagen, obgleich er sich selbst verschiedene Mädchen hielt. Man ließ sie kaum allein in die Kirche gehen. Pierre war eines Tages hinter ihr Geheimnis gekommen, als er sie hinter der Kirche rasch einige Worte mit einem eleganten Herrn von vornehmem Aussehen wechseln sah. Verwirrt reichte sie ihm ihre kleine, schmale, kühle Hand.
    »Oh, welche Überraschung, Herr Abbé... Es ist schon lange her, daß man sich nicht gesehen hat.«
    Sie teilte ihm mit, es sei nun schon das drittemal, daß sie nach Lourdes gehe. Ihre Schwiegermutter habe sie gezwungen, der Association de Notre-Dame de salut beizutreten.
    »Es ist merkwürdig, daß Sie sie nicht auf dem Bahnhofe gesehen haben. Sie hat mich in den Zug gesetzt und wird mich auch bei der Rückkehr wieder abholen.«
    Das wurde sehr einfach gesagt, aber mit solch scharfer Ironie, daß Pierre sich das Seinige dabei dachte. Er wußte, daß sie an nichts glaubte und die Religion nur ausübte, um sich dadurch von Zeit zu Zeit eine freie Stunde zu verschaffen.

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