Lourdes
Vigneron zu seinem Sohne, »das soll ein Schwindsüchtiger sein.«
Das Kind schien sich leidenschaftlich für diesen Todeskampf zu interessieren. Er hatte keine Furcht, nur ein unendlich trauriges Lächeln flog über sein Gesicht.
»Oh, das ist entsetzlich!« murmelte Frau Chaise, die aus Angst vor dem Tode ganz bleich war.
»Donnerwetter!« sagte Vigneron philosophisch, »jeder zu seiner Zeit, wir sind alle sterblich!«
»Laß ihn wieder herunter«, sagte Frau Vigneron zu ihrem Gatten. »Du ermüdest ihn, wenn du ihn so lange an den Beinen hältst.«
Sie war ebenso wie Frau Chaise eifrig darauf bedacht, das Kind vor jedem Stoß zu bewahren. Der arme Liebling hatte es nötig, sorgfältig behütet und gepflegt zu werden. Jede Minute fürchtete man ihn zu verlieren. Auch der Vater war der Meinung, daß es besser wäre, wenn man ihn wieder in den Wagen zurückbrächte. Als die beiden Frauen den Kleinen fortführten, wandte sich Herr Vigneron noch einmal an Pierre und fügte tiefbewegt hinzu:
»Ach, Herr Abbé! Wenn der liebe Gott ihn uns nehmen würde, was wäre dann unser Leben... Ich will gar nicht von dem Vermögen seiner Tante reden, das auf andere Neffen übergehen würde. Und nicht wahr, es wäre doch ganz gegen die Natur, wenn er vor ihr sterben würde, besonders bei dem Gesundheitszustande, in welchem sie sich befindet... Nun, wir stehen alle in der Hand der Vorsehung, und wir rechnen fest auf die Heilige Jungfrau, die sicherlich ein Wunder tun wird.«
Endlich hatte Frau von Jonquière vom Doktor Ferrand die Versicherung erhalten, sie könne die Grivotte ruhig verlassen. Dennoch gebrauchte sie noch die Vorsicht, Pierre zu sagen:
»Ich sterbe vor Hunger und will einen Augenblick an das Büfett gehen. Aber ich bitte Sie dringend, mich sofort wieder holen zu lassen, wenn der Husten meiner Kranken von neuem beginnt.«
Als es ihr endlich mit großer Mühe gelungen war, sich auf dem Bahnsteig durchzuarbeiten, geriet sie am Büfett in ein anderes Gedränge. Die bemittelteren Pilger hatten mit Sturm die Tische genommen, und besonders viele Priester waren zu dem Geklapper der Messer, Gabeln und Teller herbeigeeilt. Die drei oder vier Kellner kamen nicht dazu, ihres Amtes zu walten, da die Menschenmenge sie daran hinderte, die sich an den Ladentisch herandrängte und Früchte, kleine Brote und kaltes Fleisch kaufte. Im Hintergrunde des Saales frühstückte Raymonde an einem kleinen Tische mit Frau Desagneaux und Frau Volmar.
»Ah, Mama, endlich!« rief sie. »Ich wollte gerade noch einmal kommen und dich holen. Man muß dich doch wenigstens essen lassen.«
Sie lachte, sehr angeregt und beglückt von all den Reiseerlebnissen, von dieser schlechten Mahlzeit, die man mit Windeseile hinunteressen mußte.
»Hier habe ich dir deine Portion Forelle aufgehoben, und dort ist auch noch ein Kotelett, das auf dich wartet... Wir anderen sind schon bei den Artischocken.«
Dann wurde es reizend. Es war ein Winkel des Frohsinns und der Heiterkeit, den man nur mit Vergnügen betrachten konnte.
Besonders anziehend war die junge Frau Desagneaux, eine zarte Blondine mit eigensinnigen, fliegenden Haaren, einem runden, milchweißen Gesicht und Grübchen in Wangen und Kinn. Sie lachte stets und besaß ein gutes Herz. Reich verheiratet, ließ sie seit drei Jahren ihren Mann mitten in den schönen Augusttagen in Trouville allein, um die nationale Pilgerfahrt zu begleiten. Es war ihre Leidenschaft, sich während dieser fünf Tage ganz den Kranken zu widmen. Es war ein wahres Schwelgen in vollständiger Hingabe, die sie hoch beglückte. Ihr einziger Kummer war, daß sie noch kein Kind hatte, und sie bedauerte zuweilen, ihren Beruf als barmherzige Schwester verkannt zu haben.
»Oh, mein liebes Kind«, sagte sie lebhaft zu Raymonde, »bedauern Sie doch Ihre Mutter nicht, daß sie so sehr von ihren Kranken in Anspruch genommen ist. Sie hat doch wenigstens eine Beschäftigung.«
Dann wandte sie sich an Frau von Jonquière und sagte:
»Wenn Sie wüßten, wie langsam die Stunden in unserem schönen Kupee erster Klasse verrinnen! Man darf sich nicht einmal mit einer kleinen Arbeit beschäftigen, das ist verboten... Ich hatte gebeten, man sollte mich bei den Kranken verwenden. Aber es waren schon alle Plätze besetzt, und ich bin deshalb gezwungen, heute nacht den Versuch zu machen, in meiner Ecke zu schlafen.«
Sie lachte und fügte dann hinzu:
»Nicht wahr, Frau Volmar, wir werden schlafen, da die Unterhaltung Sie zu ermüden
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