Lourdes
wieder glücklich macht, würde entbehren können. Wenn er das Unglück des Lebens bis zur Neige gekostet hat, so kehrt er zur göttlichen Täuschung zurück. Und hierin ruht der Ursprung aller Religionen, darin, daß der schwäche und nackte Mensch nicht die Kraft hat, sein irdisches Elend ohne die ewige Lüge von einem Paradiese zu ertragen. Das Experiment war heute gemacht, anscheinend konnte nur die Wissenschaft genügen, und doch ist man gezwungen, eine Tür für das Geheimnisvolle offenzuhalten.
Plötzlich durchdrang das richtige Wort das Gehirn Pierres, der in tiefes Sinnen verloren war: Eine neue Religion! Die Pforte, die man für das Geheimnisvolle offenlassen mußte, war, alles in allem, eine neue Religion. Die Menschheit von ihrem Traume heilen, ihr mit Gewalt das Wunderbare entziehen, dessen sie ebenso nötig wie des Brotes zum Leben bedurfte, hieße sie vielleicht töten. Würde sie jemals den philosophischen Mut haben, das Leben so aufzufassen, wie es ist, es für sich selbst zu leben, ohne den Gedanken an zukünftige Belohnungen und Strafen? Es schien ihm, als würden Jahrhunderte vergehen, bevor die Gesellschaft vernünftig und anständig genug wäre, ohne die moralische Polizei irgendeines Kultus, ohne den Trost einer übermenschlichen Gleichheit und Gerechtigkeit leben zu können. Ja, eine neue Religion! Das Wort brach in ihm los, es tönte in ihm wieder und wieder als der Schrei der Völker selbst, als das gierige und verzweifelte Verlangen der modernen Seele. Den Trost, die Hoffnung, die der Katholizismus der Welt gebracht hatte, schienen nach achtzehn Jahrhunderten der Geschichte so viel Tränen, so viel Blut, so viel barbarische Aufregungen erschöpft zu haben. Es war eine Illusion, die da schwand, und man mußte wenigstens die Illusionen wechseln. Wenn man sich einst in das christliche Paradies gestürzt hatte, so kam es daher, daß es sich damals wie die junge Hoffnung eröffnete. Eine neue Religion, eine neue Hoffnung, ein neues Paradies, ja, danach dürstete die Welt in dem Unbehagen, in dem sie sich wand. Und der Pater Fourcade fühlte das wohl. Er wollte nichts anderes sagen, als er flehte, man sollte das Volk der großen Städte, die Masse des kleinen Volkes nach Lourdes führen. Hunderttausend, zweimalhunderttausend Pilger in Lourdes waren nur ein Sandkorn. Man brauchte das Volk, das ganze, ganze Volk. Aber das Volk hat die Kirchen auf immer verlassen, es legt nicht mehr seine Seele in die Rosenkränze und Münzen, die es fertigt, und nichts mehr konnte ihm den verlorenen Glauben wiedergeben. Eine katholische Demokratie, ach, die Geschichte würde von neuem beginnen. Aber, war diese Erschaffung eines neuen christlichen Volkes auch möglich? Und war nicht das Auftreten eines neuen Erlösers, des wundertätigen Odems eines zweiten Messias' nötig?
Diese Worte klangen immer mächtiger und mächtiger in Pierres Träumereien hinein. Eine neue Religion, eine neue Religion! Sie mußte zweifellos dem Leben näher stehen, mußte der Erde einen breiteren Platz einräumen und sich den erworbenen Wahrheiten anpassen. Und vor allem eine Religion, die kein Verlangen nach dem Tode war. Bernadette, die nur lebte, um zu sterben, Doktor Chassaigne, der nach dem Grabe verlangte, als nach dem einzigen Glück, diese ganze geistige Hingabe war eine beständige Zerstörung des Lebenswillens. Am Ende lag hier der Haß gegen das Leben, der Ekel und die Lähmung des Handelns, Jede Religion ist allerdings nur ein Versprechen der Unsterblichkeit, eine Verschönerung des Jenseits, der Zaubergarten des Tages nach dem Tode. Keine neue Religion konnte diesen Garten des Glückes auf die Erde bringen. Wo war also die Formel, wo war also das Dogma, das die Hoffnung der heutigen Menschen krönen sollte? Welchen Glauben mußte man aussäen, damit er in einer Ernte von Kraft und Frieden aufging? Wie sollte man den allgemeinen Zweifel befruchten, auf daß er einem neuen Glauben das Leben gab, und welche Art der Illusion, welche göttliche Lüge konnte noch in der heutigen, nach jedem Sinne hin verwüsteten und von einem Jahrhundert der Wissenschaft umgegrabenen Erde keimen ?
In diesem Augenblick sah Pierre, ohne sichtbaren Übergang, auf dem unklaren Hintergrunde seiner Gedanken die Gestalt seines Bruders Guillaume erscheinen. Er war jedoch nicht davon überrascht, ein geheimes Band mußte ihn herführen. Wie sie sich einst geliebt hatten, und welch guter Bruder dieser gerade und sanfte Bruder gewesen war! Dann war ein
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