Love Alice
fühle ich mich auf einmal wie eine Puppe im Schaufenster.
Ich stehe vorne am Pult und sehe, dass die anderen anders aussehen als ich. Sie tragen Jeans und sportliche Pullis mit Reißverschluss oder Aufnähern. Jeder hat einen eigenen Tisch. Die Jungs strecken ihre Kängurulatschen zu allen Seiten, die Mädchen haben die Beine über Kreuz. Alle haben ihre Namen auf ein Kärtchen geschrieben, damit ich sie kennenlernen kann. Tuula ist ein blonder, pummeliger Lockenkopf mit vollen Lippen und einer sich deutlich unter dem Pulli abzeichnenden Oberweite. Neben ihr sitzt Nesrin , bunt geschminkt. Ihr rabenschwarzes Haar ist von bunten Haargummis übersät, auf den Schläfen ein dunkler Flaum, sie hat ein erhabenes Profil mit hohen Wangenknochen. Tuula und Nesrin beobachten mich kritisch und kichern einander etwas zu. Andy , hübsch und dürr, schaut betont gelangweilt aus dem Fenster. Zwei seiner Kumpels, rechts und links von ihm, haben kaum leserlich Rainer und Stef auf die Schilder gekrickelt. Sie haben Pickel und beschmeißen sich auf dämliche Jungsart mit abgekauten Radiergummistückchen.
Mein Blick bleibt bei einem Mädchen hängen, das zwei Kirschen auf ihr Schild gemalt hat. Einen Namen hat sie nicht dazu geschrieben. Eine blasse, zierliche Gestalt mit langen, aschblonden Haaren, ganz in Schwarz, mit goldenem Lipgloss. Sie kaut auf ihrer Unterlippe und schreibt etwas in ein zerfleddertes Heft. Neben ihr auf dem Tisch liegt eine Spielkarte.
»Please stand up and say hello to our new fellow pupil … what’s your name?«, sagt die Maus.
Es fällt mir nicht sofort auf, dass sie mich meint.
»Alice … Blumberg«, sage ich leise.
Die Klasse schweigt, ebenso die Lehrerin.
»Ich bin nur für eine Spielzeit ... hier«, füge ich hinzu, weil ich das Gefühl habe, es wird noch eine längere Rede erwartet. Keiner rührt sich und ich bin auf einmal ganz erfroren. Bevor irgendein weiterer Gedanke meinen Kopf streift, mache ich auf einmal einen Knicks. Ganz automatisch.
Die Klasse grölt.
»Say hello to Alice«, sagt die Lehrerin völlig unbeeindruckt. Vielleicht hat sie den Knicks nicht gesehen.
»Hello, Alice«, dröhnt mir ein schräg klingender Chor entgegen.
Ich weiß nicht, ob ich darauf antworten soll, und fühle mich schrecklich. Kirsche ist die Einzige, die nicht mitmacht. Ich sehe sie freundlich an, während sie weiter in ihr Heft kritzelt. Sie stellt das Heft wie einen Schutzschild auf. Auf dem Cover ist ein Bild von einer schwimmenden Ratte, die traurig nach Luft schnappt. Die Lehrerin folgt meinem Blick und lächelt säuerlich.
»This is Kristin. Say hello, Kristin.«
Das Mädchen blickt auf, man merkt, dass sie das Drumherum verpasst hat. Die Lehrerin wird ungeduldig.
»Kristin!«
Kristin drückt den Rücken durch und richtet sich trotzig auf. »Cherry. I’ve chosen a new name. Please call me Cherry.«
Ihre Stimme klingt tief und saftig, wie wenn man in eine hohle Melone sprechen würde. Mama sagt, die Stimme sei immer schon die halbe Miete, wenn man wissen will, wie jemand drauf ist.
»Kristin, please be nice«, presst die Lehrerin heraus.
»Warum sollte ich, ich kenne sie überhaupt nicht.«
»But it’s especially people we don’t know that we are polite to«, beharrt die Lehrerin.
Cherry schweigt. Die Lehrerin wartet eine Weile, gibt auf und schnauft wie ein müder Gaul. Es ist ansteckend, auch ich atme tief durch. Die Lehrerin sieht entrüstet über die Klasse.
»Take a seat, Alice«, spricht sie mich an. »Choose one next to someone nice.«
Das letzte Wort betont sie, und ich ärgere mich darüber, dass ich hier gegen die anderen ausgespielt werde. Intrigen gibt es überall, nicht nur im Theater. Cherry vertieft sich demonstrativ gleichmütig in ihr Heft.
Als es zur Pause klingelt, umringen Tuula, Nesrin und andere Mädchen meinen Tisch.
»Woher kommst du?«, gurrt Tuula. Später erfahre ich, dass sie selbst aus Finnland stammt. »Wie lange bleibst du?« Nesrins helle Stimme ist voller Luft.
Ich sehe sie an, zücke die Schultern. Wo soll ich anfangen? Dass wir zuletzt in Japan waren, aber nur kurz, vorher in einer kleinen Stadt in der Nähe von Aachen, davor … Ob jemand weiß, wie lang eine Spielzeit ist?
Tuula legt ihren Arm um meine Hüfte und zeigt auf Andy.
»Der da ist ein Arschloch, von dem musst du fernbleiben«, sagt sie und lacht satt und zufrieden.
Andy grinst. Es ist klar, dass er der Klassenschwarm ist. Ich nehme mir fest vor, ihn nicht weiter zu beachten.
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