Love Alice
ein Model aus. Als seine Augen beiläufig in meine Richtung wandern, lächelt er mich an. Ich stelle mir mich in seinen Armen vor. Wie ich ihm über das Haar streichle. Ich würde ein hochelegantes Kostüm und hochgestecktes Haar tragen und kiloweise Schminke. An unseren Fingern blitzen Eheringe auf. Wir lächeln uns zu, wie auf einer Postkarte. Ich fühle mich sicher und geborgen bei ihm. Und, wichtig, wie eine Königin. Sekunden später schrecke ich hoch. Hinter dem Fenster zieht meine Haltestelle vorbei.
Ich haste zum Ausgang, bleibe mit meiner Schultasche peinlich an seinem Sitz hängen und bin kurz davor, ihm vor die Füße zu fallen. Mit tiefrotem Kopf drücke ich den Halteknopf. Der schöne Mann tippt eine SMS und beachtet mich nicht weiter. Ich bin ihm vollkommen egal.
Jetzt muss ich alleine durch den Wald. Der Schnee glitzert vor mir auf dem Kies, es knatscht unter meinen Schritten. Nach einer Weile kann ich mir kaum noch vorstellen, dass ich eben aus einem Bus gestiegen bin. Die Geräusche der Schnellstraße verlieren sich zwischen den schwarznassen Bäumen. Die Gegend ist wunderschön wie im Märchen. Die Luft riecht frisch und sauber.
Ein paar Schritte neben mir stapft ein Fasan durch das Unterholz. Sein buntes Gefieder glänzt, er wendet den Kopf hin und her, blickt mich mit seinem gelben Auge an. Der lange Schweif zeichnet sanfte Striche auf den Schnee. Ich hebe die Hand zum Gruß. Der Fasan macht ein paar wichtige Schritte, sein Auftreten ist von großem Ernst bestimmt. Als wollte er selbst den Bus nehmen und wir wären uns rein zufällig hier auf dem Pfad begegnet. Ich lächle ihn an, weil ich hoffe, dass er keine Angst vor mir hat. Ich frage mich, ob er sich an die Menschen gewöhnt hat, die ab und an durch sein Revier laufen. Vorsichtig hole ich eine Packung Zwieback aus meiner Schultasche. Der Fasan beäugt mich eindringlich. In der Nähe knackt ein Ast. Der Vogel schreckt auf und ich drehe mich um. Aber hinter mir sind nur Schnee und Bäume zu sehen. Unschlüssig überlege ich, weshalb ein Ast auf einmal so laut knacken kann. Der Fasan ist längst über alle Berge. Schlagartig fühle ich mich unwohl und ich mache mich hastig auf den Weg zum Schulgebäude.
Heute sitze ich direkt hinter Andy. Wir schreiben eine Klausur und es ist ganz still. Papier raschelt, ich schreibe mit. Obwohl meine Klausuren normalerweise nicht bewertet werden. Jeder weiß, dass ich erst seit kurzem hier bin. Gerade weil es mir egal ist, kommen mir die Aufgaben leicht vor. Abgesehen davon bin ich in Englisch und Mathe sowieso ganz gut. Ich bin als Erste fertig, tue aber so, als würde ich noch nachdenken. Ich nestle an meiner Schleife und starre durch die Gegend.
Cherry sitzt in Wollmütze über den Aufgaben und kaut sich das Gold von den Lippen. Andy dreht sich um und sieht mich an. Ich hebe fragend die Augenbrauen, da lässt er genüsslich einen fahren. Ich kann es nicht fassen. Es ist so widerlich. Kurz treffen sich unsere Blicke. Er sieht wirklich gut aus. Andy zieht eine Grimasse, streckt den Arm ganz durch und zeigt mit dem Finger auf mich.
»Du!«, faucht er und dann noch mal ganz laut: »Du!«
Tuula und Nesrin brechen wie einstudiert in Gelächter aus. Ich fühle, wie meine Ohren zu glühen beginnen. Cherry sieht ebenfalls auf.
»Ich war es nicht …«, flüstere ich.
»Du!!«, brummt Andy und seine Kumpels fallen zustimmend ein.
Tuula und Nesrin wedeln künstlich mit den Händen vor ihren Nasen, als würde es entsetzlich stinken. Auf einmal haut Cherry mit der Faust auf den Tisch und zieht ihre Mütze mit einem Ruck ab. Ihr Haar ist rot gefärbt und steht elektrisiert und glänzend in alle Richtungen ab. Tizianrot, kirschrot, feuerrot, tomatenrot, blutrot. Andy verstummt und starrt sie an. Alle starren sie an. Cherry zeigt Andy den Stinkefinger und vertieft sich wieder in ihre Arbeit.
Nach dem Unterricht laufe ich den Kiesweg zur Bushaltestelle hinunter. Cherry steht mit dem Rücken zu mir vor der Reklametafel. Sie verschwimmt in ihren schwarzen Kleidern mit der grauen Umgebung. Ihr langes, glühend rotes Haar flattert wie eine glühende Fahne im Wind. Sie fummelt wieder an der Reklametafel. Langsam gehe ich zu ihr. Cherry zieht lange Papierschlieren ab und lässt sie vom Wind wegtragen. Ab und zu lehnt sie sich mit dem ganzen Oberkörper gegen die Pappe und atmet den Leimgeruch ein.
Ich gehe zuerst an ihr vorbei, aber nur, um auf der anderen Seite des Plakates wieder aufzutauchen. Kurz halte ich inne und
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