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Love Alice

Love Alice

Titel: Love Alice Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nataly Elisabeth Savina
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überlege, ob ich etwas sagen soll. Cherry beachtet mich nicht. Sie jedenfalls scheint auch immer entgegen allen Ratschlägen der Schule alleine nach Hause zu fahren. Unter abgepulter Autowerbung kann ich Fragmente einer Fernsehmoderatorin erkennen. Ich stelle mich an die andere Ecke der Tafel und fange ebenfalls an, kleine Papierfetzen abzuziehen. Es geht erstaunlich einfach. Die Plakatschichten sind feucht vom Regen. Man muss mit dem Nagel das Papier anheben, darunter kratzen und es dann ganz langsam nach oben ziehen. Vorsichtig, damit es nicht reißt und der Streifen schön lang, aber nicht zu breit wird. Cherry schielt zu mir rüber, ich halte ihrem Blick stand und rieche an dem frischen Riss, so wie sie es getan hat. Der Leimgeruch erinnert an den Duft von Pfannkuchenteig. Es riecht lecker, wie ein Frühstück bei Oma. Als der Bus kommt, haben wir fast die ganze Reklame zerfetzt.
    Meine Hausaufgaben mache ich auf unserer Tischkiste. Ich habe meinen Bademantel ausgepackt und trage ihn mit dicken Wollsocken über meinem Pulli. Ich esse Schwarzbrot und dazu Mandarinen, die perfekte Winterkombination für ein spontanes Abendessen. Der Boden ist eisig, und ich stelle mir vor, ich würde auf einem alten Gut leben, auf dem die Dienstboten schon lange nicht mehr den Kamin beheizen. Und da unsere Ernte verdorben ist und die Plantage pleite, haben wir Kühe und Pferde verkauft. Alles, was mir geblieben ist, ist diese eine Kerze, die ich mir angezündet habe.
    »Ich habe eine Überraschung für dich, Dodo mio«, höre ich Mama hinter meinem Rücken.
    Sie trägt Theaterschminke und duftet nach viel Parfüm und passt überhaupt nicht auf meine verarmte Plantage.
    »Ich bin kein Dodo«, sage ich.
    »Du hast überhaupt keinen Humor, genau wie deine Großmutter. Ich habe dir ein Haustier mitgebracht«, sagt Mama und hält triumphierend einen zotteligen Plüschvogel hoch.
    Sie bewegt seinen Kopf, die schwarzen Perlen in den Plastikaugen rollen wie wild hin und her.
    »O namenlose Freude!«, singt sie dazu.
    Es ist aus Fidelio . Ich möchte gerne ernst bleiben. Es gibt wirklich nichts Lustiges in meinem Leben.
    »Möglicherweise vergisst du, etwas zu sagen«, sagt Mama schließlich, nach dem wir beide lange genug geschwiegen haben.
    Ich stehe auf und gehe zur Fensterbank. Darauf liegt neben einem vertrockneten Blumenstrauß das schwere Dekoei aus Marmor.
    »Danke, Mama«, sage ich. »Kann ich das hier auch haben?«
    Mama betrachtet irritiert das Ei in meiner Hand.
    »Du brauchst dich nicht zu wundern, wenn du so keine Freunde findest, Alice. Du bist sonderlich.«
    Ich nehme den Vogel aus ihrer Hand und gehe wortlos in mein Zimmer.
    »Versumpft in Gedanken?«, ruft sie mir nach.
    »Ich werde doch noch denken dürfen!«, motze ich und schließe die Tür.
    Dann öffne ich sie leise wieder und beobachte Mama heimlich. Ich sehe, wie sie ans Fenster tritt. Wenn sie jetzt traurig ist, ist es meine Schuld. Mama streckt langsam ihr Gesicht der dunklen Fensterscheibe entgegen und hinterlässt darauf einen roten Abdruck ihres Mundes.
    Die wenigen Möbel in meinem Zimmer sind weiß. Ich hole einen flauschigen Wollschal, ein paar Halstücher und Wollstulpen aus meinem Schrank heraus und baue am Kopfende meines Bettes ein Nest. Es ist rund, weich und sehr gemütlich. Ganz tief, in die runde Mitte aus Tüchern, verstaue ich den Plüschvogel, obendrauf lege ich vorsichtig das Marmor-ei. Dann beuge ich mich zu dem Ei und horche.
    »Ich werde dich ausbrüten«, sage ich leise zu meinem Ei.
    Dann lege ich meinen Bademantel ab, knipse das Licht aus und setze mich in Slip und Pulli auf das Nest. Ich finde eine bequeme Haltung, schwinge ein paar Mal meine Arme wie Flügel und lege meine Hände dann auf dem Rücken zusammen. Es ist inzwischen stockdunkel. Ich sehe aus dem Fenster in die Nacht. Dicke Schneeflocken tanzen dort im Lichtkegel der Laterne eine wilde Polonaise.
    Cherry treffe ich am nächsten Morgen als Erste. Es ist so früh, dass die leeren Gänge in meinen kalten Ohren wie ein Vakuum rauschen und Cherry wie ein Astronaut darin umherwandert. Sie kommt stark geschminkt von der Toilette, leuchtend blau um die Augen. Ihre Lippen tragen wieder das Goldrosa. Ohne mich zu bemerken, steckt sie ihre Schminksachen in die Tasche und läuft in Richtung unseres Klassenzimmers.
    »Kristin! Warte auf mich! Kristin!«, rufe ich.
    Aber Cherry schließt die gläserne Zwischentür hinter sich, als wäre ich Luft. Als ich die Tür aufstoßen will, hält

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