Love Train
war ihm am Ende des Satzes das englische Vokabular ausgegangen, aber wir hatten trotzdem verstanden, was er uns erklären wollte: Man musste den Arm des toten Ritters berühren und sich dabei etwas wünschen, das daraufhin in Erfüllung gehen würde. Super!
»Ich zuerst.« Juli drängelte sich bereits an dem Italiener vorbei und streckte ihre Hand nach dem Arm des Ritters aus. Energisch strich sie darüber, schloss die Augen und auf ihrem Gesicht lag für einen Moment ein hoch konzentrierter Ausdruck. Was sie sich wohl wünschte? Vermutlich, dass sie endlich als Model entdeckt und eine steile Karriere auf den Laufstegen der Welt vor sich haben würde. Ich war mir ziemlich sicher, dass das Julis sehnlichster Wunsch war, aber ich fürchtete, dass nicht einmal der tote Ritter ihr diesen erfüllen konnte.
Ich näherte mich der Ritterstatue etwas vorsichtiger. Es gab nur einen einzigen Wunsch, der mir immer und immer wieder durch den Kopf ging, aber was, wenn dieser Wunsch genauso unrealistisch war wie Julis Modeltraum? Behutsam legte ich meine Hand auf den kalten Arm und streichelte sanft darüber. Ich möchte Joey sehen, nur ein einziges Mal, dachte ich, so fest ich konnte, und kniff dabei die Augen zusammen. Dann zog ich schnell einen gefalteten karierten Zettel mit einer Passage aus meinem Tagebuch aus der Hosentasche und steckte ihn in eine Falte des bronzenen Tuchs.
In diesem Moment ertönte plötzlich laute Musik: ein klassisches Stück, das mir bekannt vorkam, dessen Name mir aber nicht einfallen wollte. Eilig folgten Juli und ich den euphorischen Klängen und standen nach wenigen Schritten auf der mittlerweile dunklen Grand-Place . Einzig das alte Rathaus mit seiner Stuckfassade und den Türmchen war in buntes Licht getaucht, das aufflackerte und erlosch, wieder emporloderte und in dem schnellen Rhythmus zu tanzen schien. Ahs und Ohs waren von überall zu hören, um uns herum saÃen die Menschen auf dem Boden und hatten die Köpfe in Richtung der Lichtspiele gewandt. Juli und ich lieÃen uns ebenfalls aufs Pflaster sinken, gepackt von dem Spektakel, das sich uns hier so überraschend bot.
Die Musik wechselte zu einem Popsong in Orchesterversion. Ãber das Gebäude vor uns rieselten Lichtpunkte wie Konfetti herab, einige Zuschauer entzündeten Feuerzeuge und schwenkten sie hin und her. Direkt neben uns knutschte ein Pärchen und zwei Freundinnen wiegten sich eng umschlungen im Takt. Ich war wie gefangen von dem langsamen Liebeslied und dem wunderbaren Spiel der Lichter und fühlte mich traurig und glücklich zugleich. Eine vage Sehnsucht stieg in mir auf. Auch Juli schien die Vorführung beinah andächtig zu verfolgen, ihr Gesichtsausdruck war so ernst, wie man es selten bei ihr sah. Für einen winzigen Moment hatte ich das intensive Bedürfnis, einen Arm um ihre Schulter zu legen. Aber ich traute mich nicht. Und dann war der Moment schon wieder vorbei.
Erst wenn man sich auf die Suche nach einem echten Prinzen macht, merkt man, dass es schon schwierig genug ist, einen Frosch zu finden.
aus Lenas Tagebuch
»Du und deine blöde Spontaneität!«
»Du und deine blöde Besserwisserei!«
Es war ernüchternd, aber nicht sonderlich erstaunlich: Julis und mein brüchiger Friede hatte keine 24 Stunden gehalten. Wieder war der Brüsseler Bahnhof Schauplatz unseres Streits, nur standen wir dieses Mal vor dem Ticketschalter und gifteten uns an.
»Hätten wir die Fahrkarten früher gebucht, wäre das garantiert nicht so teuer geworden!«
»Hätten, hätten, hätten ⦠hättest du ja machen können, hast du aber nicht.« Juli schob schmollend die Unterlippe vor â ob ihr überhaupt klar war, wie albern das bei einer 18-Jährigen wirkte? Mich machte es jedenfalls nur noch fuchsiger, dass sie sich jetzt wie ein Kleinkind benahm.
»Das ist so typisch! Immer sind die anderen schuld, nur du nicht. Wer plant denn diese Reise seit einer Ewigkeit? Ich bestimmt nicht! Und wenn, dann hätte ich mich ganz sicher früher um die Tickets gekümmert!«
»Du bist ja auch immer so perfekt organisiert. Bloà nichts dem Zufall überlassen. Mach dich mal locker, Lena.«
»Locker machen?« Ich schrie schon fast wieder. »Knapp 300 Euro pro Person müssen wir jetzt lockermachen!« (Denn mit dem Interrailpass konnten wir den Eurostar nach London nicht benutzen â und die
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