Love Train
wenigen verbilligten Tickets waren natürlich längst weg!)
»Bezahl du das doch«, fauchte ich Juli an. »Geld genug scheinst du ja zu haben.«
»Na ja.« Plötzlich wurde meine Schwester kleinlaut. »Das hab ich gestern zum gröÃten Teil ausgegeben. Unter anderem für deine Klamotten.«
Ich sparte es mir, meine Schwester darauf hinzuweisen, dass sie mir nur neue Sachen hatte kaufen müssen, weil sie nicht in der Lage gewesen war, auch nur für fünf Minuten auf meinen Rucksack aufzupassen.
»Excuse me?« Die adrette Dame hinter dem Ticketschalter, deren strenger Haarknoten jedes Facelifting überflüssig machte, wurde langsam ungeduldig. »Would you like to buy the tickets?«
»Isnât there a cheaper way to get to London?«, fragte Juli sie mit einem überfreundlichen Lächeln. Gibt es keine günstigere Alternative?
»Swim«, erklärte die Dame lapidar, ohne dabei das Lächeln zu erwidern. Durch den Ãrmelkanal schwimmen! Haha! Wenn das mal nicht typisch britischer Humor war, ach nein, wir waren ja in Belgien!
»Please?« So leicht konnte sie Juli jedoch nicht abschrecken.
»You could check the ferries«, erklärte die Dame genervt, kritzelte eine Telefonnummer auf einen Zettel und schob ihn meiner Schwester hin. Dann wandte sie sich mit professionellem Colgatelächeln einem älteren Herrn im Businessanzug zu, der hinter uns ungeduldig wartete.
Juli telefonierte, und wie sich herausstellte, kostete die Fähre wesentlich weniger als die Tickets für den Eurostar. So kam es, dass wir mit Bummelzügen nach Calais gondelten und dort auf eine riesige Fähre stiegen.
Wir waren kaum an Bord, da steuerte Juli aufs oberste Deck, und während die Fähre Richtung England losstampfte, lehnte meine Schwester sich mit ausgestreckten Armen und groÃer Geste gegen die vordere Reling und brüllte: »Ich bin der König der Welt.« (Ich liebe den Film »Titanic«, aber dieser Satz hat definitiv mehr Stil, wenn er aus Leonardo DiCaprios Mund kommt!)
»Komm her, Lena«, trompetete Juli, aber ich verlegte mich lieber aufs Fremdschämen und verkroch mich auf einen der Stühle, die möglichst weit mittig auf dem Oberdeck platziert waren. Nicht, dass mir das Schifffahren etwas ausgemacht hätte, ich fand es sogar weit angenehmer, als in einem Zug durch einen Tunnel unter Massen von Wasser hindurchzudüsen.
Nein, das Meer fand ich toll. Von meinem sicheren Platz aus konnte ich beobachten, wie es sich in schier endloser Weite hinstreckte und an einem entfernten Horizont mit dem Himmel, der sich grau über das Wasser spannte, zu verschmelzen schien. Absolut faszinierend war auch der Blick auf die Kreidefelsen von Dover, als wir uns nach etwa eineinhalbstündiger Fahrt unserem Ziel näherten! Aber die Wellen, die mit aller Kraft zig Meter unter uns gegen den dicken, blau-weiÃen Schiffsbauch klatschten, wollte ich lieber nicht zu genau sehen. Ich leide nämlich unter ziemlich heftiger Höhenangst.
Es war bereits Abend, als wir in London ankamen, die Reise hatte auf diesem Weg fast zehn Stunden gedauert. Und es regnete, wie das in England wohl nicht anders zu erwarten gewesen war. Die einzige Jacke, die sich in meinem neuen Reisegepäck befand, war der schicke graue Blazer, den ich fest vor meiner Brust zusammenzog, der mich aber nur unzureichend vor den Tropfen schützte, die auf uns niederprasselten. Ich war hundemüde, und in der ganzen Aufregung in Brüssel hatte ich zudem vergessen, mich um eine Schlafgelegenheit in London zu kümmern. Mist!
So war ich froh, als Juli ihre neueste Bekanntschaft aus dem Zug anschleppte: Dimitri aus Russland, der ein Bett in einem Hostel im Londoner Stadtteil Bayswater reserviert hatte und uns einfach mitnahm. Nicht mehr ganz so froh war ich dann, als wir unsere eigenen Betten zugewiesen bekamen: blau gestrichene Metallhochbetten in einem gemischten Schlafsaal mit zwanzig Leuten. Immerhin war die Unterkunft billig und zum Schlafen würde es wohl reichen.
Wie sich bereits in der ersten Nacht herausstellte, hatte ich mich in diesem Punkt jedoch gründlich geirrt. Dimitri und seine Kumpels feierten bis Mitternacht eine Wodkaparty und schnarchten danach, als wollten sie den gesamten Wald von Sherwood absägen. Zwei Britinnen aus Cardiff kamen erst gegen drei Uhr morgens von einer Party zurück und eine von ihnen erbrach sich ins Waschbecken. Und
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