Love
Schreibwerkstatt eine eigene Anschrift hatte, wusste Lisey, wie unwahrscheinlich es war, dass sie diese Dinge ankommen sah. Und sobald sie hier waren … nun, diese luftigen, gut beleuch teten Räume waren Scotts kreativer Spielplatz gewesen, nicht ihrer, ein überwiegend freundlicher Einmannklub, in dem er seine Geschichten geschrieben und so laut Musik gehört hatte, wie er wollte. Dafür gab es eigens eine schalldichte Zone, die er seine »Gummizelle« nannte. An der Tür hatte nie ein ZUTRITT VERBOTEN! -Schild gehangen; als er noch gelebt hatte, war sie oft hier oben gewesen, und Scott hatte sich immer gefreut, sie zu sehen, aber erst Amanda hatte erkannt, was sich im Bauch der an der Südwand schlafenden Bücherschlange verbarg. Die leicht gekränkte Amanda, die misstrauische Amanda, die abergläubische Amanda, die irgendwie zu der Überzeugung gelangt war, dass ihr Haus niederbrennen würde, wenn sie im Küchenherd nicht jedes Mal genau drei Ahornscheite nachleg te, nicht mehr und nicht weniger. Amanda mit der unausrottbaren Angewohnheit, sich dreimal auf ihrer Schwelle umzudrehen, wenn sie ins Haus zurückgehen musste, um etwas zu holen, was sie vergessen hatte. Beobachtete man sie dabei (oder hörte man sie beim Zähneputzen mitzählen), konnte man Manda ohne Weiteres als leicht verrückte alte Jungfer abtun, der am besten mal jemand ein Rezept für Zoloft oder Prozac ausstellte. Aber hätte die kleine Lisey ohne Manda jemals erkannt, dass hier oben Hunderte von Bildern ihres toten Ehemanns liegen, die nur darauf warten, von ihr betrachtet zu werden? Hunderte von Erinnerungen, die darauf warten, geweckt zu werden? Und die meisten davon bestimmt angenehmer als die Erinnerung an Dashmiel, diesen Waschlappen, diesen jämmerlichen Feigling …
»Schluss damit«, murmelte sie. »Hör sofort auf damit. Lisa Debusher Landon, Hand auf und loslassen.«
Aber sie war offenbar nicht bereit, das zu tun, denn sie stand auf, durchquerte den Raum und kniete sich vor die Bücher. Ihre rechte Hand schwebte wie bei einem Zaubertrick nach vorn und bekam den Band U-TENN NASHVILLE 1988 REVIEW zu fassen. Ihr Herz begann zu rasen, aber nicht vor Aufregung, sondern vor Angst. Der Kopf konnte dem Herzen sagen, dass dies alles achtzehn Jahre zurücklag, doch in Gefühlsdingen hatte das Herz seinen eigenen brillanten Wortschatz. Die Haa re des Verrückten waren hellblond, fast weiß gewesen. Er war ein Verrückter im Graduiertenstudium gewesen, der nicht bloß unverständliches Zeug hervorgestoßen hatte. Am Tag nach dem Attentat – als Scotts Zustand sich von kritisch zu befrie digend verbessert hatte – hatte sie ihren Mann gefragt, ob der verrückte Graduierte in spe es umgeschnallt gehabt hätte, und Scott hatte geflüstert, er habe keine Ahnung, ob ein Verrück ter irgendwas umschnallen könne. Es umzuschnallen sei eine heroische Tat, ein Willensakt, und Verrückte besäßen nicht viel eigenen Willen … oder sei sie da anderer Meinung?
Das weiß ich nicht, Scott. Ich werde darüber nachdenken.
Ohne es ernstlich vorzuhaben. Sie wollte nie wieder daran denken, wenn es sich vermeiden ließ. Aus Liseys Sicht sollte der Bekloppte mit der kleinen Pistole sich zu den übrigen Din gen gesellen, die sie erfolgreich vergessen hatte, seit sie Scott kannte.
Es war heiß, was?
Scott lag im Bett. Noch immer blass, viel zu blass, aber immerhin dabei, wieder etwas mehr Farbe zu bekommen. Beiläufig, ohne besonderen Anlass, nur um Konversation zu ma chen. Und Lisey Jetzt, Lisey Allein, der Witwe Landon lief ein
kalter Schauer über den Rücken.
»Er konnte sich an nichts erinnern«, murmelte sie.
Dessen war sie sich sicher. An nichts davon, wie er auf dem Asphalt gelegen hatte und sie beide der Überzeugung gewe sen waren, dass er nie wieder aufstehen würde. Dass er ster ben und es nach den letzten Worten, die sie jetzt wechselten, keine weiteren mehr geben würde, obwohl sie einander doch noch immer so viel zu sagen hatten. Der Neurologe, mit dem sie sprach, nachdem sie ihren ganzen Mut zusammengenom men hatte, erklärte ihr, dass das Vergessen der Umstände traumatischer Erlebnisse durchaus üblich sei und Patienten, die sich von solchen Traumata erholten, oft feststellten, im Film ihrer Erinnerungen sei ein schwarzes Loch eingebrannt. Diese Lücke konnte fünf Minuten, fünf Stunden oder fünf Tage umfassen. Manchmal tauchten zusammenhanglose Bil der oder Fragmente noch Jahre oder Jahrzehnte später auf. Der Neurologe nannte es
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