Love
Abwehrmechanismus.
Lisey leuchtete die Erklärung ein.
Vom Krankenhaus aus war sie zurück ins Motel gefahren, in dem sie sich ein Zimmer genommen hatte. Es war kein besonders gutes Zimmer – nach hinten hinaus, nichts zu sehen außer einem Bretterzaun, nichts zu hören außer einer Hundertschaft kläffender Köter –, aber aus solchen Dingen machte sie sich schon längst nichts mehr. Vor allem wollte sie nichts mit dem Campus zu tun haben, auf dem ihr Mann nie dergeschossen worden war. Und als sie ihre Schuhe abstreifte und sich auf dem harten Doppelbett ausstreckte, dachte sie: Die Dunkelheit liebt ihn.
Stimmte das?
Wie konnte sie das sagen, wenn sie nicht einmal wusste, was es bedeutete?
Du weißt es. Daddys Belohnung war ein Kuss.
Lisey hatte ihren Kopf auf dem Kissen so rasch abgewandt, als ob eine unsichtbare Hand sie geohrfeigt hätte. Kein Wort darüber!
Keine Antwort … keine Antwort … und dann listig: Die Dunkelheit liebt ihn. Er tanzt mit ihr wie mit einer Geliebten, und der Mond geht auf über dem purpurroten Hügel, und was süß war, riecht sauer. Riecht wie Gift.
Sie hatte den Kopf wieder auf die andere Seite gedreht. Und außerhalb des Motelzimmers hatten die Hunde – jeder ver flixte Köter in Nashville, wie es sich angehört hatte – gekläfft, während die Sonne in orangerotem Augustsmog unterging und Platz machte für die Nacht. Als Kind hatte ihre Mutter ihr versichert, vor der Dunkelheit müsste man sich nicht fürch ten, und sie hatte es geglaubt. Sie war auch in der Dunkel heit unbekümmert fröhlich gewesen, selbst wenn die Nacht von Blitzen erhellt und von Donnerschlägen zerrissen wurde. Während ihre um Jahre ältere Schwester Manda sich unter der Bettdecke verkroch, hatte die kleine Lisey daumenlut schend auf dem eigenen Bett gesessen und verlangt, dass ihr jemand beim Licht einer Taschenlampe eine Geschichte vor las. Als sie Scott davon erzählt hatte, hatte er ihre Hände genommen und gesagt: »Dann sei du mein Licht. Sei mein Licht, Lisey.« Und sie hatte es versucht, aber …
»Ich war an einem dunklen Ort«, murmelte Lisey, während sie nun mit der U-TENN NASHVILLE 1988 REVIEW in den Hän den in seinem verlassenen Arbeitszimmer saß. »Hast du das gesagt, Scott? Du hast es gesagt, nicht wahr?«
Ich war an einem dunklen Ort, und du hast mich gefunden. Du hast mich gerettet.
In Nashville mochte das gestimmt haben. Zum Schluss nicht mehr.
Du hast mich immer gerettet, Lisey. Weißt du noch, wie ich zum ersten Mal bei dir übernachtet habe?
Lisey saß da mit dem Buch auf ihrem Schoß und lächelte. Natürlich wusste sie das noch. Am deutlichsten erinnerte sie sich an zu viel Pfefferminz schnaps, von dem sie Sodbrennen bekommen hatte. Und er hatte Schwierigkeiten gehabt, über haupt eine Erektion zu bekommen und dann sie zu behalten, doch letztlich hatte alles geklappt. Damals hatte sie ange nommen, der Alkohol wäre schuld. Erst später hatte er ihr gebeichtet, vor ihr sei er noch nie erfolgreich gewesen: Sie sei die erste und einzige Frau seines Lebens, und was er ihr oder sonst wem von seinem ausschweifenden Sexleben als Heran wachsender – schwul und hetero – erzählt habe, sei gelogen gewesen. Und Lisey? Lisey hatte ihn als unerledigtes Projekt betrachtet – als etwas, was vor dem Schlafengehen noch an stand. Denk dran, der Geschirrspülmaschine gut zuzureden, damit sie im lärmenden Teil ihres Waschgangs nicht schlapp macht; denk dran, die Kasserolle aus feuerfestem Glas über Nacht einzuweichen; denk dran, dem vielversprechenden jun gen Schriftsteller einen zu blasen, bis er einen anständigen Steifen kriegt.
Als wir fertig waren und du eingeschlafen bist, habe ich wach gelegen und auf den Wecker auf deinem Nachttisch und den Wind draußen gehorcht und begriffen, dass ich wirklich zu Hause war, dass ich mit dir im Bett daheim war und dass etwas, was sich in der Dunkelheit angeschlichen hatte, plötzlich verschwunden war. Es konnte nicht bleiben. Es war verbannt worden. Es würde zurückkommen, da war ich mir sicher, aber es konnte nicht bleiben, und ich konnte wirklich einschlafen. Mein Herz bekam vor Dankbarkeit einen Sprung. Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich wirklich Dankbarkeit empfunden habe. Ich habe neben dir gelegen, und mir sind Tränen übers Gesicht gelaufen und aufs Kissen getropft. Ich habe dich geliebt, und ich liebe dich jetzt, und ich habe dich in jeder Sekunde dazwischen geliebt. Ob du mich verstehst, ist mir egal. Verstehen wird
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