Loved by an Angel
»Hat dich der Mut verlassen? Warum hast du es nicht einfach durchgezogen und dich umgebracht?«
»Enttäuscht?«, konterte Ivy.
»Wer ist cool genug, cool, cool, cool?«, höhnte er leise.
»Lass mich in Frieden, Eric.« Ivy lief schneller.
»Nee. Diesmal nicht.« Er packte ihr Handgelenk, seine dürren Finger umklammerten ihren Arm. »Du kannst mich jetzt nicht einfach abblitzen lassen, Ivy. Du und ich haben zu viel gemeinsam.«
»Wir haben überhaupt nichts gemeinsam«, entgegnete sie und versuchte, sich loszumachen.
»Gregory«, erwiderte er und tippte auf einen seiner Finger. »Drogen.« Er hakte den zweiten Punkt mit dem nächsten Finger ab. »Und bei Mutproben sind wir auch beide Weltmeister.« Er wackelte mit dem dritten Finger. »Wir sind jetzt Kumpels.«
Ivy lief weiter, obwohl sie am liebsten gerannt wäre. Eric hüpfte neben ihr her.
»Erklär deinem guten Kumpel doch mal«, meinte er, »warum du das tun wolltest. Was ging dir durch den Kopf, als du gesehen hast, wie der Zug auf dich zugerast ist? Hattest du was eingeschmissen? Was war das für ein Trip?«
Seine Fragen widerten Ivy an. Der Gedanke, sie wäre freiwillig vor einen Zug gesprungen, war völlig abwegig. Sie hatte Tristan verloren, aber es gab in ihrem Leben immer noch viele Menschen, die ihr sehr wichtig waren - Philip, ihre Mutter, Suzanne und Beth, und Gregory, der sie nach Tristans Tod beschützt und getröstet hatte. Gregory hatte selbst eine Menge durchgemacht, als sich seine Mutter einen Monat vor Tristans Tod umgebracht hatte. Ivy hatte erlebt, welchen Schmerz und welche Wut dieser Tod ausgelöst hatte, und der Gedanke, dasselbe zu versuchen, erschien ihr absolut wahnsinnig.
Doch alle behaupteten, sie hätte es getan. Auch Gregory.
»Wie oft muss ich es dir noch sagen? Ich kann mich nicht erinnern, was in dieser Nacht passiert ist, Eric. Es ist einfach weg.«
»Wirst du schon noch«, meinte er leise lachend. »Früher oder später passiert es.«
Dann ließ er sie stehen und drehte abrupt um - wie ein Hund, der seine Reviergrenze erreicht hat.
Ivy ging zu ihrem Spind, um ihre neuen Bücher einzuschließen. Sie kniete sich hin, gab die Zahlenkombination ein und zog die Tür auf - und hielt erschrocken die Luft an. An der Türinnenseite klebte ein Foto von Tristan, und zwar dasselbe Bild, das sie seit drei Wochen verfolgte. Einen Moment lang konnte sie kaum atmen. Wie war es dort hingekommen?
Verzweifelt versuchte sie, sich an alles zu erinnern, was sie an diesem Morgen getan hatte: Sie war in der Klassenstunde gewesen, danach zu einer Schülerversammlung gegangen, später im Schulladen und schließlich bei der Vertrauenslehrerin gewesen. Sie ging die Liste zweimal durch, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, das Foto angeklebt zu haben. Drehte sie jetzt tatsächlich durch?
Ivy schloss die Augen und lehnte sich gegen die Tür. Ich schnappe über, dachte sie. Ich schnappe wirklich über.
»Hallo! He, Romeo! Wo bist du? Roooo-me-ooo!«, rief Lacey.
Tristan, der Ivy die breite Haupttreppe im Haus der Baines hinuntergefolgt war, blieb auf dem Treppenabsatz stehen und steckte den Kopf aus einem offenen Fenster.
Aus einem bunten Blumenbeet lächelte ihm Lacey entgegen - es war der einzige Fleck auf Andrew Baines’ Grundstück, wo sich nicht Hunderte von Gästen mit Picknickdecken und Körben tummelten. Auf der Terrasse spielte sich eine karibische Steelband ein. In den Pinien um den Tennisplatz hingen Papierlaternen, darunter war das Buffet aufgebaut.
Lange bevor Tristan Ivy kennengelernt hatte, lange bevor Andrew alle damit überrascht hatte, dass er Maggie heiratete, war Tristan jedes Jahr zu dieser Party gekommen. Er erinnerte sich daran, wie imposant ihm als kleiner Junge das weiße holzverkleidete Haus immer vorgekommen war, mit seinem Ost- und Westflügel, den Doppelschornsteinen und den vielen schwarzen Fensterläden - es sah wie eines der Häuser im New-England-Kalender seiner Mutter aus.
»Vergiss die Tussi, Romeo!«, rief ihm Lacey zu. »Du verpasst eine tolle Party. Vor allem das, was hinter manchen Büschen abgeht.«
Selbst jetzt, nach zweieinhalb Monaten als Engel, war Tristans erster Impuls noch immer, sie zum Schweigen zu bringen. Auch wenn außer ihm niemand sie hören konnte - es sei denn, Lacey beschloss, ihre Stimme hörbar zu machen. Eine Fähigkeit, die er noch nicht beherrschte.
Er lächelte sie schief an, dann trat er vom Fenster zurück. Im gleichen Augenblick, als Tristan sich wieder zur
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