Lovers (German Edition)
nimmt einen tiefen Zug aus der Flasche und gibt sie mir. Ich trinke, während sie beginnt zu erzählen.
“Meine Familie lebt in Richmond, Virginia.”
“Ehrlich? Da stammst du also her?”
“Ja, ursprünglich schon, obwohl ich schon überall gelebt habe. Richmond ist eine stabile, biedere Stadt mit vielen Banken. Mein Vater arbeitet bei einer Bank. Jeder gute Bürger von Richmond arbeitet bei einer Bank. Das ist einer der Gründe, warum ich so verzweifelt versucht habe, dort rauszukommen. Du kannst dir kaum vorstellen, wie wenig ich dorthin gepasst habe.”
“Du stehst deiner Familie also nicht besonders nahe?”
Audrey lacht; es ist ein kurzes, humorloses Bellen. “Meine Mutter ist seine zweite Frau. Ich habe zwei Halbbrüder und eine Halbschwester, aber sie wollen mit uns nichts zu tun haben. Nein, ihre größte Sorge ist, Daddy könnte sterben und sein ganzes Geld meiner Mutter hinterlassen. Was er vermutlich auch tun wird. Daddy ist in meine Mutter vernarrt, weshalb für mich nicht allzu viel Platz ist. Meine Halbgeschwister kommen ein paar Mal im Jahr, um Daddy zu besuchen. Ich versuche immer, dann nicht in der Stadt zu sein.” Sie trinkt aus der Flasche, und ich sitze schweigend neben ihr, weil ich nicht weiß, was ich dazu sagen soll. “Eigentlich versuche ich, die meiste Zeit nicht dort zu sein. So ist es besser für uns alle. Vor allem für mich. Ich bin es leid, unsichtbar zu sein.”
“Gott, das bin ich auch.”
Audrey wendet sich mir zu, und ich sehe, wie ihre Augen im Mondlicht funkeln. “Bist du denn unsichtbar, Bettina?”
Ich nicke. “Oh ja.” Ich kann nur flüstern. Mein Herz hämmert.
Sie starrt mich lange an. “ Ich sehe dich.” Audrey hebt eine Hand und streicht mir die Haare aus dem Gesicht. Ihr Blick bleibt auf meinen geheftet, und sie zieht die dunklen, elegant geschwungenen Brauen zusammen. “Wir beide verstehen uns. Das habe ich vom ersten Moment an gewusst.”
Mir ist warm, und ich zittere am ganzen Körper. Ich lecke mir über die Lippen, die in der Meeresbrise ausgetrocknet sind. Ich habe das merkwürdige Gefühl, plötzlich ganz mit der Erde verbunden zu sein. Und der Reiz, den Audrey auf mich ausübt, gehört dazu. Obwohl das Wissen, dass wir zum Teil eine ähnliche Geschichte haben, wohl mit reinspielt.
“Ich verstehe dich sehr gut”, erkläre ich. “Meine Eltern haben meine Gegenwart gar nicht bemerkt, bis … vielleicht nie. Oder höchstens ganz vage, als existiere ich nur am Rande ihrer Wahrnehmung. Es ist besser, nicht bei ihnen zu sein und diesem Gefühl ausgesetzt zu werden. Es ist einfacher.”
“Ganz genau! Ich will mir das nicht tagtäglich antun müssen. Ich will mich nicht ausgeschlossen fühlen. Diesen Scheiß kann ich überall auf der Welt mitmachen.”
“Aber du … also, du bist nie ausgeschlossen. Mit dir macht das niemand.”
“Wieso denkst du das?”
Sie sieht ehrlich verwirrt aus.
“Weil”, fange ich an und verstumme. Doch ich habe zu viel getrunken, um nicht zu sagen, was ich denke. “Weil du eine unglaublich tolle Person bist, Audrey. Du bist faszinierend, und das meine ich überhaupt nicht herablassend. Nicht wie ein Tier im Zoo, das man anstarrt und studiert. Ich will einfach … bei dir sein. Und ich glaube, so muss jeder andere auch empfinden.”
Sie strahlt mich an, beugt sich herüber und küsst mich auf die Wange. Ihre Lippen hinterlassen einen heißen, feuchten Eindruck auf meiner Haut. Ich will die Hand heben und meine Finger auf die Stelle drücken. Aber ich widerstehe dem Impuls. Stattdessen verschränke ich die Beine und versuche, das plötzliche Ziehen in meinem Unterleib zu überspielen.
Ich hätte wirklich nicht so viel Wein trinken sollen.
“Süße Bettina”, sagt sie und zieht die Hand zurück, um noch einen Schluck Wein zu trinken. Die Flasche ist fast leer. “Aber das stimmt nicht, weißt du? Die Welt lehnt mich im Großen und Ganzen ab. Das hat sie schon immer getan.”
Ich spüre den Schmerz hinter diesen einfachen Worten, und sofort will ich, dass sie sich besser fühlt. Aber ich weiß nicht, wie.
Doch, das weißt du …
Gott, was denke ich mir bloß? Sie flirtet doch nicht mit mir!
Oder doch?
“Wir sollten zurückgehen”, sagt sie. “Ich will morgen früh aufstehen und an den Strand gehen, bevor ich mit dem Schreiben anfange.”
“Oh, okay. Klar.”
Sie steht auf und nimmt meine Hand, um mich auf die Füße zu ziehen. Ich bin vom Wein leicht beduselt. Und sie zieht mich an sich. Ihre Arme
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