Lucas
auf dem Rückweg noch tanken gefahren wäre. Wenn Lucas, wo immer er herkam, einen Tag früher oder später aufgebrochen wäre . . .
Was wäre passiert? Wäre alles anders gekommen? Wäre ich jetzt, in diesem Moment, eine andere Person? Wäre ich glücklicher? Trauriger? Würde ich andere Träume haben? Und was wäre mit Lucas? Was wäre mit Lucas passiert, wenn ich ihn an dem Tag nicht gesehen hätte? Würde er noch . . .
Und dann merke ich immer, wie völlig sinnlos solche Gedanken sind. Was, wenn . . . was hätte sein können . . .
Es spielt keine Rolle.
Ich habe ihn gesehen und nichts wird daran je etwas ändern.
Diese Dinge, diese Momente, die man für außergewöhnlich hält, sie haben so eine Fähigkeit, wieder zurück in die Wirklichkeit zu schmelzen, und je weiter wir uns von dem Damm entfernten – je weiter wir uns von dem Moment entfernten –, desto weniger kribbelig fühlte ich mich. Als wir in den schmalen Weg einbogen, der hinunter zu unserem Haus führt, war das Schwirren in meinem Kopf so gut wie weg und die Welt wieder in etwa bei Normal angekommen.
Der Wagen polterte den Weg entlang und ich schaute hinaus auf das vertraute Bild: die Pappeln im Sonnenlicht, das immer wieder zwischen den Zweigen aufblitzte; die grünen Felder; die holperige Zufahrt; dann das alte graue Haus, wie es friedlich und einladend im kühler werdenden Sonnenlicht lag; und hinter allem der Strand und das Meer, das in der Weite des Abends funkelte. Außer einem einsamen Containerschiff, das langsam am Horizont auftauchte, lag das Meer ganz still und leer da.
Dad hat mir einmal erzählt, dass ihn dieser Teil von Hale, die Ostseite, an seine Kindheit zu Hause in Irland erinnere.Ich bin nie in Irland gewesen, also kann ich nichts dazu sagen. Aber ich weiß, dass ich alles an diesem Ort liebe – den Frieden, die Wildnis, die Vögel, den Geruch von Salz und Seetang, das Pfeifen des Windes, die Unberechenbarkeit des Meers . . . ich liebe sogar dieses abgelegene alte Haus mit seinem verwitterten Dach und seinen unebenen Mauern, seinem Wirrwarr von Anbauten und baufälligen Schuppen. Vielleicht ist es ja nicht das schönste Haus der Welt, aber es ist meins. Der Ort, wo ich lebe. Ich bin hier geboren.
Ich gehöre hierher.
Dad stellte den Wagen im Hof ab und schaltete den Motor aus. Ich öffnete die Tür. Deefer sprang hinaus und bellte Rita Gray, unsere Nachbarin, an, die mit ihrem Labrador den Weg entlangkam. Ich stieg aus dem Wagen und winkte ihr. Gerade als sie zurückwinkte, kamen zwei Höckerschwäne landeinwärts über ein Feld geflogen – niedrig, man hörte ihre Flügel im Wind schlagen. Die Labrador-Hündin lief ihnen hinterher und bellte wie blöde.
»Die kriegt sie doch sowieso nicht«, rief Dad.
Rita zuckte die Schultern und lächelte. »Aber es tut ihr gut, John, sie braucht es als Training – oh, hallo, Dominic, ich hab dich gar nicht erkannt.«
»Hi, Mrs G.«, antwortete Dominic und schlurfte ins Haus.
Die Labrador-Hündin war inzwischen den halben Weg hinuntergelaufen, die Zunge hing ihr heraus und sie kläffte den leeren Himmel an.
Rita schüttelte den Kopf und stöhnte. »Verdammter Hund, ich weiß nicht, warum sie – oh, Cait, ehe ich es vergesse, Bill hat gefragt, ob du sie wegen morgen mal anrufst.«
»Okay.«
»Sie wird so etwa bis neun zu Hause sein.«
»In Ordnung, danke.«
Sie nickte Dad zu, dann schritt sie davon den Weg hinunter, ihrem Hund hinterher. Sie pfiff und lachte und schwang die Hundeleine durch die Luft. Ihr rotes Haar wehte im Wind.
Ich merkte, dass Dad sie beobachtete.
»Was ist?«, sagte er, als er spürte, dass ich ihn ansah.
»Nichts«, antwortete ich lächelnd.
Drinnen hatte Dominic seinen Rucksack auf den Boden geworfen und stapfte die Treppe hinauf. »Ruf mich, wenn es was zu futtern gibt«, sagte er noch. »Ich hau mich nur schnell mal ’ne Runde hin. Bin echt geschafft.«
Die Tür zu seinem Zimmer schlug zu.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, noch jemanden im Haus zu haben. Seine Anwesenheit machte mich nervös. Ich glaube, ich hatte mich dran gewöhnt, mit Dad allein zu leben. Mit unseren Geräuschen, unserer Stille. Ich hatte mich an die Ruhe und Einsamkeit gewöhnt.
Dad hob Dominics Rucksack auf und lehnte ihn gegen die Treppe. Er lächelte mich beruhigend an und sagte, als könne er meine Gedanken lesen: »Er ist einfach ein großes Kind, Cait. Er meint es nicht böse.«
»Ja, ich weiß.«
»Das wird schon. Mach dir keine Sorgen.«
Ich nickte.
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