Lucas
Kathleen lachte, dann ging dir das Herz auf.« Er erzählt mir, wie glücklich sie zusammen waren. Er zeigt mir Fotos, liest mir ihre Gedichte vor, erzählt mir, wie sehr ich ihn an sie erinnere . . . er
erzählt
mir, wie traurig er ist. Aber er wird nie seinen eigenen Rat befolgen – nie seiner Traurigkeit ein bisschen Leben gönnen.
Ich weiß nicht, warum.
Manchmal denke ich, es ist deshalb, weil er
will
, dass die Traurigkeit in ihm drinnen stirbt. Dass er sie, wenn sie bei ihm drinnen stirbt, von mir fern hält. Aber was er nicht merkt, ist, dass ich gar nicht von seiner Traurigkeit ausgeschlossen sein
will
. Ich will auch ein Stück von ihr. Ich will sie ebenfalls spüren. Kathleen war meine Mutter. Ich habe sie kaum gekannt, aber das Mindeste, was er tun könnte, wäre mich teilhaben lassen an ihrem Sterben.
Ich weiß nicht, ob das irgendwie Sinn macht.
Ich weiß nicht mal, ob es wahr ist.
Aber das war es, was ich dachte.
Unten an der schmalen Gezeitenbucht, die sich tief ins Land hineinschiebt, war Deefer auf die kleine Holzbrücke spaziert und starrte eine Schwanenfamilie an – ein Elternpaar und drei große Jungschwäne. Einer der Eltern machte ein großes Getöse, um seine Brut zu verteidigen, er näherte sich Deefer mit ausgebreiteten Flügeln, gebogenem Hals und lautem Zischen. Deefer blieb völlig unbeeindruckt. Er kennt das alles. Deshalb stand er einfach nur da, starrte hinüber und wedelte leicht mit dem Schwanz. Ein paar Minuten später gab der Schwan auf, schüttelte den Kopf und paddelte zurück zu seiner Familie.
Die schmale Bucht folgt einer Senke, die parallel zum Strand verläuft und sich die ganze Strecke entlang von der Mitte der Insel bis zum Watt gegenüber dem Point erstreckt. Zwischen Bucht und Strand gibt es eine ausgedehnte Salzwiesenfläche, einen blassgrünen Teppich aus Seespargel und Portulak, der mit zahllosen moorigen, von Schilf und Binsen gesäumten Tümpeln übersät ist. Wenn man sich auskennt wie ich, gibt es kleine Pfade durch die Salzwiesen, die direkt hinüber zum Strand führen. Andernfalls muss man den ganzen Weg an der schmalen Bucht entlang bis zum westlichen Ende des Strands laufen, da wo die Salzwiesen ins Ufer übergehen, oder aber man läuft quer durch ein Labyrinth aus Dünen und Ginster nach Osten und folgt dem Weg bis zu der breiten, flachen Bucht neben dem Watt.
Ich rief Deefer, wir überquerten die Salzwiesen und erreichten den Strand bei dem alten Betonbunker. Als wir hinunter ans Wasser gingen, frischte der Seewind auf und würzte die Luft mit einer Mischung aus Salz und Sand und unbekannten Dingen, die nur Hunde riechen können. Während Deefer loszog und den Kopf in den Wind streckte, um die Geschichten seiner Welt zu erschnuppern, blieb ich einen Moment stehen und lauschte auf die Geräusche des Meers. Die Wellen, die sanft auf den Strand lappten, der Wind in der Luft, der knirschende Sand, die Seevögel . . . und unter alldem, oder auch über alldem, das leise Knistern des Watts neben dem Point.
Der Point ist das östlichste Ende der Insel, ein dünner Finger aus Kieseln, auf der einen Seite vom Meer, auf der andern vom Watt begrenzt. Wenn Ebbe ist, kann man dort die Überreste alter Schiffe sehen, die hinabgezogen wurden in die Tiefen. Wie Skelette längst verendeter Tiere ragen ihre freigelegten, schwarz gewordenen Gerippe aus dem Schlamm und warnen eindringlich vor den Gefahren, die im Schlick lauern. Jenseits des Watts liegt ein zerklüftetes Inselchen in der sich öffnenden Mündung, verschattet vom Gewirr eines verkümmerten kleinen Waldes. Die kleine Insel erhebt sich in einer eindrucksvollen Mischung aus Schönheit und Drohung über die Küste, denn die Äste ihrer vertrockneten Bäume sind von Wind und Flut in merkwürdige ausgreifende Formen gebogen, wie missgebildete Hände, die sich nach Hilfe recken.
Selbst im Hochsommer ist dieser Teil des Strands gewöhnlich menschenleer. Besucher der Insel bleiben im Allgemeinen auf der Westseite, der Dorfseite, wo der Sand fein ist und esgenügend Parkplätze gibt. Dort liegt auch der »Country Park« (eine Wiese mit Abfalleimern), man kann Klippenwanderungen machen und Drachen steigen lassen, es gibt einen Eiswagen und einen Musikpavillon – es bestehen sogar Pläne, dort einen Wohnwagenpark zu eröffnen. Es ist eine andere Welt. Hier im Osten der Insel sind die einzigen Menschen, mit denen man rechnen kann, Einheimische, Angler, Leute mit Hunden, ab und zu mal einer von diesen Anoraktypen,
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