Lucas
Schnell genug, um irgendwo hinzukommen, aber nicht soschnell, dass er unterwegs etwas verpassen würde. Federnd, lebhaft, entschlossen, unbeschwert und ohne Eitelkeit. Ein Gang, der sich in alles, was ihn umgab, einfügte und doch von allem unberührt blieb.
Man kann an der Art, wie Menschen gehen, viel über sie erfahren.
Als der Wagen noch näher herankam, merkte ich, dass Dad und Dominic aufgehört hatten zu reden, und ich war mir plötzlich einer eigenartigen, fast geisterhaften Stille bewusst, die in der Luft lag, nicht nur im Auto, sondern auch draußen. Die Vögel hatten aufgehört zu singen, der Wind hatte sich gelegt und der Himmel am Horizont hatte sich zum strahlendsten Blau aufgehellt, das ich je gesehen habe. Es war wie in einer dieser Filmszenen in Zeitlupe, die in absoluter Stille ablaufen, wenn einem die Haut anfängt zu prickeln und man einfach
weiß
, dass jeden Moment etwas Gewaltiges passieren wird.
Dad fuhr mit mehr oder weniger gleich bleibender Geschwindigkeit, wie er das immer tut, aber jetzt schien es, als würden wir uns kaum bewegen. Ich konnte die Reifen auf der trockenen Straße summen hören und die Luft, die am Fenster vorbeisauste, und ich konnte die Geländer auf beiden Seiten in verschwommenem Weiß vorbeizucken sehen, daher wusste ich,
dass
wir uns bewegten, aber die Entfernung zwischen uns und dem Jungen schien sich nicht zu verändern.
Es war unheimlich. Fast wie ein Traum.
Dann, mit einem Mal, schienen Zeit und Entfernung wieder voranzutaumeln und wir fuhren auf gleiche Höhe mit dem Jungen. Als es so weit war, wandte er seinen Kopf und sah uns an. Nein, das ist falsch – er wandte seinen Kopf und sah
mich
an. Genau mich. (Als ich vor kurzem mit Dad darüber sprach, sagte er, er hätte genau das gleiche Gefühl gehabt – dass Lucas
ihn
ansah, als wäre
er
die einzige Person auf der ganzen Welt.)
Es war ein Gesicht, das ich nie vergessen werde. Nicht einfach wegen seiner Schönheit – obwohl Lucas ohne jeden Zweifel schön war –, sondern mehr wegen seines wunderlichen Ausdrucks,
jenseits
von allem zu sein. Jenseits der blassblauen Augen, der zerzausten Haare und des traurigen Lächelns . . . jenseits all dessen gab es noch etwas anderes.
Etwas . . .
Ich weiß noch immer nicht, was es war.
Dominic brach den Bann, indem er aus dem Fenster starrte und stöhnte: »Was ist
das
denn für einer, verdammt?«
Und dann war der Junge fort, vorübergesaust in den Hintergrund, während wir den Damm verließen und abdrehten Richtung Osten der Insel.
Ich wollte zurückschauen. Ich war wild entschlossen zurückzuschauen. Aber ich konnte nicht. Ich hatte Angst, dass er vielleicht nicht mehr da war.
Der Rest der Fahrt hatte etwas von einem verschwommenen Bild. Ich erinnere mich, dass Dad ein eigenartiges schniefendes Geräusch machte und mich im Spiegel ansah, dann räusperte er sich und fragte, ob mit mir alles in Ordnung sei.
Und ich weiß noch, wie ich antwortete: »Hm hmm.«
Und dass Dominic fragte: »Kennst du ihn, Cait?«
»Wen?«
»Den Gammeltypen, den kleinen Lump . . . dieses komische Etwas, das du da eben angestarrt hast.«
»Halt die Klappe, Dominic.«
Er lachte und äffte mich nach –
»Halt die Klappe, Dominic.«
– und dann wechselte er das Thema.
Ich erinnere mich, wie Dad einen Gang herunterschaltete und danach den Wagen in einem seltenen Ausbruch von Vertrauen den Black Hill hochjagte, und ganz vage erinnere ich noch, dass wir an dem Schild
Beware Tractors
, zu Deutsch:
Vorsicht, Traktoren
, vorbeifuhren, von dem allerdings die beiden Buchstaben
T
und
r
durch eine Hecke verdeckt sind, sodass man liest:
Beware actors – Vorsicht, Schauspieler
. Jedes Mal, wenn wir dran vorbeifahren, sagt einer von uns:
Guck mal, John Wayne!
Oder
Hugh Grant
oder
Brad Pitt
. . . Aber ich erinnere mich nicht, wer es an dem Nachmittag sagte.
Ich war eine Zeit lang irgendwo anders.
Wo, weiß ich nicht.
Alles, woran ich mich erinnere, ist ein seltsames Schwirren in meinem Kopf, eine derart intensive Erregung und Trauer, wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte und vielleicht auch nie wieder spüren werde.
Es war, als ob ich gewusst hätte – da schon –, was passieren würde.
Während des letzten Jahres habe ich mich oft gefragt, was gewesen wäre, wenn ich Lucas an dem Tag nicht gesehen hätte. Wenn wir den Damm zehn Minuten früher überquert hätten oder zehn Minuten später. Wenn Dominics Zug Verspätung gehabt hätte. Wenn Flut gewesen wäre. Wenn Dad
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