Lucian
Entspann dichoder versuch es zumindest. Es gibt sicher eine Erklärung dafür, wo er ist. Vielleicht geht er dir wirklich aus dem Weg, weil er sauer ist wegen der Sache mit Janne vorgestern.«
»Ja«, sagte ich tonlos. »Vielleicht.«
Mittags ging ich kurz nach Hause und legte Spatz und Janne einen Zettel hin, dass ich beim Schwimmen sei. Dann machte ich mich wieder auf den Weg zum Holzdamm und klingelte Sturm.
Als der Summer ertönte, hätte ich vor Erleichterung fast geweint. In wilden Sätzen jagte ich die Treppen hoch – und hielt im fünften Stock jäh inne.
An der Wohnungstür stand die Frau mit den langen braunen Haaren, diesmal natürlich angezogen.
»Wo brennt’s denn?«, fragte sie. Wo es brannte? Überall.
»Dein Freund ist nicht da«, erklärte sie mir.
»Kann . . . könnte ich . . . bitte kurz in sein Zimmer? Ich hab was liegen lassen.«
Die Frau zögerte. »Ich weiß nicht ob . . . na okay, komm schon.« Sie hielt mir die Tür auf.
Als ich in Lucians Zimmer trat, das so sehr nach ihm roch, hätte ich mich am liebsten dort eingeschlossen. Das Bett war zerwühlt, seine Klamotten waren achtlos auf dem Boden verteilt. Im Papierkorb entdeckte ich Jannes Buch.
Ich sank auf das Bett, nahm das Kissen, presste es an mein Gesicht und sog Lucians Geruch ein. Ich wollte nicht weg. Ich wollte hierbleiben, bis er endlich kam und mir sagte, was los war.
Aber schon ein paar Minuten später klopfte es an der Tür.
»Tut mir leid«, sagte die Frau. »Ich muss gleich los und ich glaube, es ist besser, du gehst jetzt.«
»Bitte. Nur noch einen Moment«, bettelte ich. »Haben Sie etwas zu schreiben?«
Die Frau brachte mir Zettel und Stift.
Lucian. Wo bist du??? Melde dich!!!
Ich kritzelte meine Handynummer unter die Notiz und verließ das Haus. Es hatte wieder zu regnen begonnen, diesmal waren es nadelspitze Tropfen, deren Nässe mir bis in die Knochen kroch. Die Bäume waren schon fast kahl und das Laub auf den Gehwegen hatte alle Farbe verloren. Braun, nass und trostlos lag es herum.
Zu Hause lockte ich Jim Bob, der in den letzten Tagen extrem zutraulich geworden war, aus seinem Käfig und verzog mich mit ihm in mein Zimmer.
Janne hatte gekocht. Sie klopfte an meine Tür, aber ich täuschte Kopfschmerzen vor und sagte, ich wollte früh schlafen gehen. Ich setzte mich vor den Computer und checkte meine Mails, um mich wenigstens ein bisschen abzulenken. Jim Bob hockte auf meinem Schreibtisch und knabberte an meinem Matheheft. Ab und zu stieß er ein paar leise Töne aus.
Dad hatte geschrieben. In L.A. war es sommerlich warm und sie hatten einen großen Auftrag bekommen für eine EiscremeWerbung in Venice Beach. Val ließ mich grüßen. Sie hatte Dad gefragt, ob er sie bei seinem nächsten Deutschlandbesuch mitnehmen würde, damit sie mich endlich kennen lernte. Was Michelle dazu gesagt hatte, verschwieg Dad, aber dafür kündigte er seinen nächsten Besuch nach Weihnachten an.
How is life, little Wolf?
It is like fucking hell.
Ich legte mich auf mein Bett, drückte den weißen Bären an meine Brust und beobachtete Jim Bob, der jetzt auf dem Fenstersims hockte.
»Hey, Knastbruder«, sagte ich leise. »Wie geht es dir ohne John Boy?«
Jim Bob beachtete mich nicht. Er trippelte auf meinem Fensterbrett auf und ab und dann stand er wieder still da und klopfte mit dem Schnabel gegen die Fensterscheibe. Der Regen war stärker geworden, die Elbe vor meinem Fenster war eine graue Suppe.
Ich erhob mich vom Bett, tigerte in meinem Zimmer auf und ab, starrte alle paar Sekunden auf mein Handy, beschwor es, sah aus dem Fenster und überlegte, wie und wann ich mich wieder nach draußen stehlen konnte, ohne dass Janne Verdacht schöpfte.
Als mein Handy vibrierte, erschrak ich fast zu Tode. »Was ist mit dir?«
Oh nein. Bitte nicht. Ich kniff die Augen zu. Es war Sebastian.
»Nichts«, sagte ich kraftlos. »Nichts Schlimmes jedenfalls. Ich hab nur ein bisschen . . . Fieber.«
»Diese Antwort kenne ich bereits.« Ich hörte Sebastian seufzen. »Becky, was ist los? Warum warst du heute nicht in der Schule? Ist es . . . wegen ihm?«
»Sebastian, ich . . .« Verzweifelt rang ich nach Worten. »Ich kann jetzt nicht sprechen, okay?«
»Soll ich vorbeikommen?«
»Nein!« Ich bemühte mich, nicht zu brüllen. »Nein. Ist schon gut. Ich melde mich morgen. Wir sehen uns in der Schule.«
Ein Räuspern. »Da stimmt was nicht«, sagte Sebastian. »Da geht irgendetwas ganz gewaltig schief. Ich kann ja verstehen, wenn .
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