Lucian
Ja.
Ich schaffte den Umweg über Lucians Wohnung nicht mehr, denn
Janne und Spatz warteten zu Hause auf mich, um nach St. Georg zu
fahren.
Ich hatte fest vor, den Umzug so schnell wie möglich hinter mich
zu bringen. Mein Schwimmzeug hatte ich extra eingepackt, damit meine Ausrede auch glaubwürdig war.
Die Ateliergemeinschaft lag genau zwischen der Langen Reihe und der Koppel und diesmal erwartete uns Spatz’ Vermieter – ein bärtiger Kerl mit weißem Haar, wachen Augen und einem breiten Lachen –schon vor dem Eingang.
Spatz hatte recht, die ehemalige Maschinenfabrik war wirklich ein grandioses Gebäude. Ein vegetarisches Café und zwölf verschiedene Werkstätten waren unter ihrem gläsernen, lichtdurchlässigen Dach entstanden. Eine große Wendeltreppe mit knallrotem Geländer verband die einzelnen Etagen, in denen Schmuck- und Modedesigner, Buchbinder, Tischler, Fotografen und Maler ihre Ateliers hatten.
Die Werkstätte des Künstlers, mit dem Spatz das Atelier teilen würde, lag im dritten Stock, sodass der Einzug eine zeit- und kraftraubende Angelegenheit wurde, zumal sich der gute Mann wegen eines Bandscheibenvorfalls aus der Affäre zog.
Neben Spatz’ Glücksschwämmen und ihrer Seemannsgarn-Serie luden wir auch ihre Arbeitsreihe Organs aus dem Transporter. Die Skulpturen aus gefärbtem Kunstharz waren wunderschön – und
nicht gerade leicht, denn Spatz hatte sie auf große Holzkästen geschraubt. Wir mussten sie einzeln tragen.
Ich schnappte mir ein grünes Objekt, dem Spatz den Namen Chlorophylled cerebrum gegeben hatte, und balancierte es vorsichtig die
vielen Treppen nach oben. Spatz trug ein orangefarbenes Gebilde, das wie eine Muschel aussah.
»Lass uns die Dinger vor der Tür abstellen«, sagte sie, als wir vordem Atelier ankamen, und wischte sich mit dem Ellenbogen den Schweiß von der Stirn. »Bevor ich mir überlege, was wohin kommt, muss erst mal geputzt werden.« Sie warf mir einen ihrer Blicke zu, der sagte: Wahrscheinlich zum ersten Mal in all den Jahren, in denen mein Vermieter dieses Atelier bewohnt .
Janne, die mittlerweile erstaunlich beweglich auf ihren Krücken war, schien sich mehr mit der Kunst als mit dem Staub des Atelierbesitzers zu beschäftigen. Sie humpelte an seinen Werken entlang. Es waren großformatige Bilder in kräftigen Acrylfarben mit abstrakten Motiven, in denen man alles Mögliche sehen konnte – wenn man nicht gerade mit Schleppen beschäftigt war. Während Janne den Künstler über sein Leben ausfragte (er war gebürtiger Tscheche, hatte Schiffsbau studiert, als Dompteuer im Zirkus gearbeitet und war mit einer selbst gebauten Dschunke durch die Welt gereist, bevor er sich in Deutschland niederließ), hatten Spatz und ich gut drei Dutzend Auf- und Abstiege hinter uns.
»Ich brauch ’ne Cola«, stöhnte ich nicht ohne Hintergedanken. Ich hatte Glück.
»Damit kann ich leider nicht dienen«, sagte der Künstler. »Hol doch was aus dem Café«, schlug Janne vor.
»Zu teuer«, konterte ich. »Wie wär’s, wenn ich kurz zum Supermarkt laufe?«
»Super Idee!« Spatz stellte einen ihrer Insektenkästen ab und schüttelte ihre Hände aus. »Bringst du mir ein Schweppes mit?«
Ich raste zu Penny, drängelte mich an der Kasse vor und rauschte dann, die Getränke im Rucksack, weiter in den Holzdamm. Wieder klingelte ich Sturm und fluchte Minuten später, weil auch jetzt niemand öffnete.
Ich warte auf dich, hatte Lucian gesagt.
Nach einem Blick auf die Uhr rannte ich weiter zur Bar.
»Machst du jetzt einen auf Stammgast, oder was?«, schnauzte mich die Blonde an, die heute allein hinter dem Tresen stand. Ich hatte weder Zeit noch Lust, mich zu streiten.
»Ich will zu Lucian«, sagte ich.
»Er ist nicht da.«
»Weißt du, wann er kommt?«
»Das fragst du mich? Wenn er dich sehen wollte, hätte er es dir ja wohl gesagt, oder?«
Jetzt stieg mir doch das Blut in den Kopf – und die Eifersucht in den Bauch.
»Ich komme wieder«, sagte ich knapp und lief zurück ins Atelier, wo Spatz schon angefangen hatte, ihre Objekte zu verteilen. Überall sah ich ihre Glücksschwämme aufblitzen, von denen Spatz in den letzten Wochen ein gutes Dutzend angefertigt hatte.
Ihr Vermieter war nirgends zu sehen. Janne machte sich gerade an den Regalflächen zu schaffen, die wirklich völlig verstaubt waren. Sie hatte ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und sich ein Käppi aufgesetzt. Nur meine Mutter konnte mit einer Krücke in der einen Hand, dem
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