Lucian
Vater. Er leitete einen Cateringservice und Sebastian hatte mir Anfang des Jahres einen Job bei ihm verschafft. Ich half bei Nachmittags- oder Wochenendevents aus, aber für heute stand keine Veranstaltung in meinem Kalender.
»Oh mein Gott, wie gut, dass du da bist!«, keuchte Sebastians Vater. Seine Stimme klang so atemlos, als stünde er kurz vor einem Herzinfarkt. »Wir haben eine Eröffnungsfeier, superwichtiger Kunde! Eine der Kellnerinnen ist krank geworden, kannst du einspringen? Der Laden heißt Lights on . Große Elbstraße im Stilwerk. Um neunzehn Uhr geht’s los. Ich zahle doppelten Stundensatz, ein Nein wird nicht akzeptiert, also was sagst du?«
Ich sagte Ja, obwohl mir die letzte Nacht noch immer in den Knochen steckte und ich am liebsten früh ins Bett gegangen wäre. Aber Sebastians Vater klang so verzweifelt, dass ich es nicht übers Herz brachte, ihm einen Korb zu geben.
Nachdem Suse gegangen war, nahm ich noch eine Dusche – diesmal eiskalt –, sagte Janne Bescheid, dass ich um elf zurück sein würde, und machte mich auf den Weg.
Lights on war, wie der Name schon sagte, ein Lampenladen im Stilwerk, einem ziemlich hippen Einkaufszentrum am Fischmarkt. Die Gäste waren schon da, als ich ankam. Sebastians Vater warf mir die Garderobe zu, die sich der Kunde gewünscht hatte, und ich zog mich hastig in der Toilette um. Schwarzes, kurzes Kleid mit tiefem Ausschnitt und einer weißen Schürze, dazu hohe Pumps. Hallo? Ging es noch nuttiger?
Aber ich war zu müde, um mich zu ärgern. Als ich einen Blick in den Spiegel warf, erschrak ich vor mir selbst. Meine Augen waren gerötet und brannten, meine Haut war käsebleich und mein sonst eher rundes Gesicht wirkte wie eingefallen. Ich kniff mir in die Wangen und machte mich an die Arbeit.
Die Gäste waren Männer und Frauen in den Vierzigern, die Spatz die Schublade neureiche Schnösel gesteckt hätte. Sie standen herum, saßen auf roten Samtsofas oder verchromten Barhockern und warteten auf ihr Fingerfood, das ich ihnen zusammen mit den beiden Service-Kolleginnen servieren sollte.
Neben dem Verkaufstresen begann die Liveband zu spielen. Ein aufgebrezeltes Sängerinnen-Duo stimmte als kleine Revivaleinlage den Abba-Song Lovelight an und die Lichter im Laden, die bis eben noch angenehm heruntergedimmt gewesen waren, wurden jetzt voll aufgedreht: Hunderte von Designerlampen stahlen sich gegenseitig die Show. Wandleuchten, Stehleuchten, Tisch-und Pendelleuchten in allen Größen und Formen. Die grellen Lichter schraubten sich in meine Nervenbahnen und die vielen Menschen machten es auch nicht besser. Der Laden, ein riesiges Loft mit Steinboden und hohen Decken, war mittlerweile gerammelt voll.
Mit zusammengebissenen Zähnen schlängelte ich mich durch dieMenge. Allein für das Outfit hätte ich die dreifache Gage verdient. Die Schuhe drückten, das Kleid kratzte und ein glatzköpfiger Mann im Nadelstreifenanzug stierte mir unverhohlen in den Ausschnitt, während er sich marmorierte Eier, chinesische Hackbällchen und Garnelenspieße von meinem Tablett pflückte. Am liebsten hätte ich ihm das Tablett vor die Glatze gepfeffert. Wenn es eine Vorhölle gäbe, dann säßen Typen wie dieser in der ersten Reihe, dachte ich angewidert.
»Was glotzt der so? Gehört der zu dir?«, raunte mir die kleine rothaarige Kellnerin ins Ohr, als sich unsere Wege kreuzten.
Ich wollte gerade empört mit dem Kopf schütteln, als ich bemerkte, dass die Kellnerin nicht auf den Glatzkopf, sondern in die andere Richtung deutete.
Und da war es wieder. Dieses seltsame Gefühl von Ruhe, tief in meinem Inneren. Ich fühlte es, bevor ich ihn sah.
Er lehnte an einer Wand ganz hinten in der Ecke des Ladens. Ich erkannte das blasse Gesicht mit dem schwarzen Haar sofort wieder. Jetzt sah ich auch, dass es ein Junge war, vielleicht ein wenig älter als Sebastian, aber nicht viel. Niemand war in seiner Nähe. Die große Stehlampe links von ihm hatte die Form eines Baumes und die Lichter, Dutzende winziger Blätter aus weißem Glas, hingen an metallenen Ästen und Zweigen auf ihn herab. Und während die anderen Gäste im Raum umhergingen, gestikulierend beieinanderstanden oder sich Häppchen in den Mund schoben, war seine Haltung so ruhig, als stünde er einem unsichtbaren Maler Porträt. Auch sein Blick war bewegungslos. Er richtete sich einzig und allein auf mich, als wäre außer mir niemand in diesem Laden.
»Wer ist das?«, flüsterte meine Kollegin. »Wie ein Gast sieht er
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