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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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und hievte einen Karton mit alten CDs auf den Tapeziertisch. Sebastian und ich hatten sie gestern Nachmittag alphabetisch sortiert, sodass Bushido nach Benjamin Blümchen und die Hells Angels vor Hexe Lilli kamen.
    Sebastian war am Freitagabend meine Rettung gewesen. Er hatte keine Fragen gestellt und ich hatte keine Erklärungen abgegeben, ich hätte einfach nicht gewusst, was ich hätte sagen sollen.
    Meine Gedanken kreisten immer nur um das eine. Ich sah ihn vor mir stehen, den Fremden in dem Lampenladen unter dem Lichtbaum.
    Und ich dachte:
    Das ist kein Zufall.
    Es konnte unmöglich ein Zufall sein.
    Ich glaubte nicht, dass ich ohne Sebastian überhaupt hätte einschlafen können. Er hatte mich im Arm gehalten, bis mir endlich die Augen zufielen. Er roch so gut, so beruhigend, so nach . . . Sebastian eben. Und tatsächlich hatte ich in der Nacht nicht wieder geträumt. Meine Angst war nicht verschwunden, sie lauerte in irgendeinem versteckten Winkel und Sebastians Anwesenheit hielt sie im Zaum –genau wie meine Gedanken an den Fremden.
    Am nächsten Morgen hatte ich mir die größte Mühe gegeben, das Ganze zu vergessen und das hohle Gefühl in meinem Inneren zu verdrängen, und schließlich gewann mein schlechtes Gewissen gegenüber Sebastian Oberhand.
    Die ganze Zeit dachte ich an einen mysteriösen Unbekannten, der aus dem Nichts auftauchte und wieder verschwand, und in der Zwischenzeit hatte ich nichts Besseres zu tun, als meinem Exfreund neue Hoffnungen zu machen?
    Ich entschuldigte mich zerknirscht bei ihm und versuchte ihm zu erklären, dass ich einfach noch ein bisschen Zeit brauchte. Sebastian reagierte unglaublich. Er kniff mir in die Nase und behauptete, das wäre schon okay für ihn, wir könnten Freunde sein. Nur in seinen Augen sah ich, dass er log.
    »Mam, wie war das mit Dad, damals?«, fragte ich. Meine Mutter war gerade dabei, Preisetiketten auf die Bücher zu kleben. »Ich meine, wie war es für ihn? Dass er dich geliebt hat und dass er für dich . . . eben nicht mehr als ein Freund gewesen ist?«
    Mein Vater und Janne kannten sich schon seit ihrem dritten Lebensjahr. Sie waren Nachbarskinder gewesen und praktisch zusammen aufgewachsen.
    Dass sie lesbisch war, hatte meine Mutter schon als junges Mädchen gewusst. Für mich war das nichts Ungewöhnliches, ich war damit aufgewachsen und die Frage, ob ich in dieser Hinsicht war wie sie, hatte sich nie gestellt. Trotzdem – auch wenn Janne es nie aussprach, vermutete ich, dass sie die Poster von männlichen Popstars, die in der fünften und sechsten Klasse meine Wände gepflastert hatten, ebenso erleichtert zur Kenntnis genommen hatte wie meine Schwärmerei für unseren Musiklehrer in der siebten Klasse.
    Janne lächelte. »Dein Dad war viel mehr als ein Freund und das weißt du.« Sie fischte einen Cent aus der kleinen Schale mit Wechselgeld und drehte ihn zärtlich zwischen ihren Fingern. »Dad und ich waren wie zwei Seiten einer Münze, schon von klein auf. Wir schwärmten für dieselbe Musik, dieselben Bücher. Wir fühlten, wie es dem anderen ging, auch wenn wir an verschiedenen Orten waren.«
    »Wie meinst du das?«
    Janne sah mich an. »Ich kann es nicht richtig erklären«, sagte sie und zuckte mit den Schultern. »Aber als ich während des Studiums eine Blinddarmentzündung hatte, machte dein Dad Urlaub in Amerika. Genau in dem Moment, als ich in die Notaufnahme kam, klingelte mein Handy. Dein Dad hatte gerade an mich gedacht und sich gefragt, ob es mir gut ginge.« Ihr Lächeln sah ein bisschen traurig aus. »So etwas gibt es nicht oft im Leben«, sagte sie. »Liebe hat so viele Gesichter und die Liebe zwischen deinem Dad und mir war eben platonisch, zumindest, was mich betraf. Das einzige Mal, als wir miteinander schliefen, war die Nacht, in der wir dich zeugten. Es war wunderschön, aber vor allem deshalb, weil du daraus entstanden bist. Und ganz egal, was jetzt ist, dafür werde ich ihm ewig dankbar sein.«
    Als Janne aufblickte, lag ein verdächtiges Schimmern in ihren Augen. Gerade wollte ich fragen, wann sie und Dad das letzte Mal miteinander gesprochen hatten, als wir unterbrochen wurden.
    »Was kostet das?« Eine Frau mit einer roten Brille hielt mir ein Buch vor die Nase. Auf dem Umschlag war das Gesicht eines älteren Mannes abgebildet. Er hatte eine hohe Stirn, einen ziemlich durchdringenden Blick und um den Mund herum etwas Zynisches. Betitelt war das Buch mit: Der vergessene Literaturkritiker. Ein

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