Lucian
standen und ich mich verabschieden wollte. Er legte seine Hände an meine Wangen. Seine Finger fühlten sich eiskalt an, aber die Berührung schien ihn ebenso zu erschrecken wie mich.
»Du glühst ja«, sagte er und musterte mich besorgt. »Hast du Fieber?«
Stumm schüttelte ich den Kopf. Hinter uns parkte gerade ein Auto, das Licht der Scheinwerfer fiel auf Sebastians Gesicht. Es war das erste Mal, dass wir uns wieder so nah waren. Forschend lag sein Blick auf mir und ich wusste, dass er noch nach etwas anderem suchte. Ich hätte es ihm gerne gegeben, aber ich konnte nicht, nicht nach dem, was heute passiert war.
Mein Fenster war dunkel und die Panik stieg wieder in mir hoch, leise, fast unmerklich, aber es genügte, um mich etwas sagen zu lassen, was schrecklich unfair war.
»Sebastian?«
»M–hm.«
»Schläfst du heute bei mir?«
DREI
»Seid ihr wieder zusammen?« Es war Sonntagmorgen und meine Mutter saß neben mir auf einem Klappstuhl in der alten Fischauktionshalle, wo jeden zweiten Sonntag im Monat ein Flohmarkt stattfand.
Janne schnippte einen Staubfussel von Spatz’ altem Trenchcoat, der neben anderen Jacken, Blusen und Kleidern auf der Stange hing. Auf dem Tapeziertisch vor uns lagen die ausrangierten Sachen vom Dachboden. Inzwischen hatte sich doch eine beachtliche Sammlung zusammengefunden. Neben dem Duschradio in U-Bahn-Optik, meinen alten Faschingskostümen, dem silbernen Handspiegel und Jannes Büchern hatten wir vor allem die Kiste mit den Geschenken von Spatz’ Mutter komplett entsorgt: die Käseglocke aus braunem Keramik, das Glühwein-Set, drei Wandteller mit musizierenden Engeln, einen Zahnstocherigel aus grünem Kristallglas und die pastellfarbenen Serviettenringe mit Entenmotiven.
Janne und ich hatten unsere Wohnung um kurz nach sieben verlassen, aber wir gehörten längst nicht zu den Ersten. Bestimmt fünfzig andere Tische verteilten sich schon in der riesigen Halle.
Noch immer war es früh am Morgen, aber heute war ich ausgeschlafen und fühlte mich fast wieder gut.
Hinter den Fenstern erhob sich ein Schwarm von Möwen in den violettroten Himmel und durch die gläserne Kuppel bohrten sich kurz darauf die ersten Sonnenstrahlen. Sie malten goldene Stäbe auf denSteinboden und tänzelten über die schweren Stahlträger. Die alte Fischmarkthalle mit ihren historischen Backsteinmauern und dem gewölbten Dach aus Eisen und Glas war einer der Gründe, warum meine Mutter damals beschlossen hatte, eine Wohnung in der Nähe des Hafens zu kaufen.
Letztes Jahr hatten Sebastian und ich hier Silvester gefeiert. Eine Hip-Hop-Band hatte gespielt, und als mich Sebastian um Mitternacht küsste, lag auf seiner Zunge ein herzförmiger Ohrring aus Silber, der von Sebastians Mund in meinen und von dort an mein linkes Ohrläppchen gewandert war.
»Erde an Rebecca. Kannst du mich hören? Erde an Rebecca . . .«
Janne stupste mich mit dem Ellenbogen an und hielt mir einen Donut hin. Sie hatte ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und war wie immer, wenn sie nicht zur Arbeit ging, ungeschminkt.
»Wenn du nicht über Sebastian sprechen willst . . .«
» . . . dann lass ich es bleiben.« Ich biss in den Donut, seufzte und begegnete Jannes Blick. Ihr hellblauer Rollkragenpullover ließ ihre Augen noch stärker leuchten als sonst, und wie so oft fiel mir auf, wie wenig ich meiner Mutter ähnelte. Janne hatte ein klares, ernstes Gesicht, das immer eine Spur nachdenklich wirkte, selbst wenn sie lachte. Sogar auf Kinderfotos hatte sie diesen Ausdruck. Sie gehörte zu den Menschen, die sich beim Älterwerden kaum verändern oder die bereits als Kind etwas Erwachsenes im Gesicht haben.
Ich klopfte den Puderzucker von meinem Pullover ab. »Die Antwort lautet Nein«, sagte ich. »Sebastian und ich sind nicht wieder zusammen, jedenfalls nicht so, wie du meinst. Wir sind . . . Freunde.«
Zwischen Jannes Augenbrauen erschien eine winzige Falte.
»Okay, okay.« Ich rollte mit den Augen und leckte mir einen Klecks Marmelade von den Fingerspitzen. »Jedenfalls so etwas inder Art. Wir haben keinen Sex, wenn es das ist, was du wissen willst.«
Jetzt war es meine Mutter, die seufzte. »Wölfchen. Du wirst bald siebzehn, du bist aufgeklärt und ich vertraue dir. Ich will nur, dass du glücklich bist. Und irgendwie siehst du nicht so aus.«
Sie machte eine kleine Pause. »Habt ihr denn über euch gesprochen? Ich meine, über eure Beziehung?«
»Na ja. Ein bisschen.« Ich legte den Donut weg
Weitere Kostenlose Bücher