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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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Tischkante knallen.
    Meine Finger fühlten sich taub an, und als ich sie betrachtete, merkte ich, dass alles Blut aus den Fingerspitzen gewichen war. Sie sahen wachsweiß aus. Das passierte mir normalerweise nur im Winter, bei großer Kälte, man nannte das Phänomen Leichenfinger.
    Ich überlegte, ob ich Sebastian anrufen sollte, aber ich brachte es nicht fertig. Stattdessen versuchte ich es bei Suse, doch dort nahm niemand ab. Ich setzte mich wieder an den Schreibtisch und blätterte in dem Manuskript, aber die Zeilen verschwammen mir vor den Augen.
    Noch einmal stand ich auf, um Suses Nummer zu wählen. Ich ließ es gut zwanzig Mal klingeln, aber niemand nahm ab. Meine Finger sahen inzwischen wie abgestorben aus und so fühlten sie sich auch an. Ich ging ins Bad und ließ heißes Wasser über sie laufen, rieb sie aneinander, doch das Leben wollte nicht zurückkehren.
    Ich ging zurück an den Schreibtisch und fing wieder an, in dem Manuskript zu blättern, und erst jetzt merkte ich, dass die letzten beiden Seiten zusammenklebten. Ich zog sie auseinander.
    Auf der letzten Seite fand ich eine Biografie von Lovell. Darunter war ein Foto, durch die Kopie hatte es an Qualität verloren, aber das Gesicht trat deutlich hervor. Der Mann hatte wache, ernst aussehende Augen und eine hohe Stirn, in die dunkle Locken fielen.
    Unter dem Foto stand in kursiver Schrift: Ambrose Lovell, geboren am 3. März 1881 in Suffolk, gestorben am 17. Oktober 1928 in London.
    Ich ließ das Blatt fallen. Ich kannte dieses Gesicht und wusste sofort, wo ich es gesehen hatte: auf der alten Radierung in Dads Gartenhaus, die ich vor zwei Tagen in der Hand gehalten hatte, kurz bevor Faye aufgekreuzt war.
    Ich brauchte nur gefühlte Sekunden, bis ich im Garten war. Am Pool standen zwei Männer, sie füllten das Becken mit Wasser, ich hörte das Rauschen der Schläuche. Die beiden grüßten mich freundlich. Ohne sie zu beachten, rannte ich an ihnen vorbei in Dads Gartenhaus. Die Radierung lag noch an ihrem Platz.
    Ich hatte recht gehabt. Der dunkelhaarige Mann mit dem ernsten Gesicht, dessen kleiner Finger sich mit dem der schönen Frau kreuzte, war Ambrose Lovell. Mein Blick flog von ihm zu der Frau und von der Frau zu dem blonden Mann an ihrer rechten Seite, meinem Urgroßvater.
    Panisch und wahllos fing ich an, die Schubladen von Dads Schreibtisch aufzureißen, eine nach der anderen. Ich wollte Informationen. Ich musste wissen, was zum Teufel das alles zu bedeuten hatte.
    Mein Gehirn lief Amok. Das Ganze war eine Verschwörung, Dad wusste Bescheid, er hatte alles eingefädelt, oder Michelle oder Janne, jemand wollte mich fertigmachen, jemand wollte, dass ich durchdrehte. Die unmöglichsten Gedanken schossen mir durch den Kopf, während meine Hände wilder und wilder in den Schubladen wühlten. Rechnungen flogen heraus, Stifte und Anspitzer, Büroklammern, Postkarten, Visitenkarten, Fotos.
    Als ich Jannes Gesicht auf den Boden fallen sah, trat ich mit meinen Füßen darauf, riss eine weitere und noch eine und noch eine Schublade auf, bis ein zorniger Ruf mich innehalten ließ.
    Michelle stand in der Tür.
    »Bist du wahnsinnig? Was in aller Welt ist in dich gefahren? Was tust du da?«
    Ich starrte erst sie an, dann das Chaos, das ich angerichtet hatte. So viel zu dem Vorsatz, mein Leben in den Griff zu bekommen. Michelle kam auf mich zu, griff nach meinem Handgelenk und zog mich von Dads Schreibtisch weg.
    »Raus mit dir!«, fuhr sie mich an. Ihre Stimme war eiskalt.
    Ich bleckte die Zähne. »Nein!«, schrie ich ihr ins Gesicht. »Ich bleibe hier, so lange ich will. Und es geht dich einen Scheißdreck an, was ich in dem Zimmer meines Vaters mache. Kapiert? Weil es nämlich mein Vater ist. Wenn überhaupt, geht es ihn etwas an. Nicht dich. Nicht! Dich!«
    Michelle wurde ganz starr. Ich fühlte es in ihrer Hand, die immer noch mein Gelenk umfasst hielt. Wenn ich jetzt ihre Finger umbiege, dachte ich, brechen sie ab.
    »Was ist hier los?«
    Jetzt stand Dad in der Tür, er hatte Val auf dem Arm. Fasziniert starrte sie auf das Chaos am Boden. Michelle lief auf sie zu und nahm sie aus Dads Armen.
    »Ich will wissen, wer das ist«, sagte ich zu Dad. Ich hielt ihm die Radierung hin. »Wer ist dieser dunkelhaarige Mann? Was weißt du über ihn?«
    Dad starrte auf das Bild, dann auf mich. Er sah völlig verwirrt aus. »Wieso?«, fragte er. »Warum interessiert dich diese alte Zeichnung?«
    »Weil ich verdammt noch mal wissen will, was hier los ist«, schrie

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