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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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Schnauben an, das aber im Keim erstickte, als Tygers Blick in ihre Richtung schoss. Dann wandte er sich wieder zu dem Mädchen mit dem Pferdeschwanz, das drauf und dran war, abermals aufzuspringen.
    »Angie«, wisperte es.
    »Angie.« Tyger schmunzelte. »Ist das nicht süß. Nun, Angie, ich bin ganz Ohr. Was habt ihr über Wirtschaftskrisen gelernt?«
    »Ich . . . wir . . . ich meine . . . wir . . .« Angie verstummte.
    Ein hagerer Junge, der links von mir saß, meldete sich todesmutig zu Wort. »Angie hat sich versprochen. Sie meinte nicht Rezessionen, sondern Rezensionen. Wir behandeln gerade Rezensionen.«
    »Re-zen-sio-nen!« Tyger beugte den Kopf vor, als hätte er sich verhört. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
    »Das«, sagte er, »ergibt natürlich einen ganz neuen Sinn. Dann verrate mir doch bitte, zusammen mit deinem Namen, was ihr über Rezen-sio-nen gelernt habt. Was genau ist eine Rezension? Was versteht man darunter?«
    Trotzig sah der hagere Junge Tyger in die Augen. »Mein Name ist James und unter einer Rezension . . .« Der Junge klappte sein Schreibheft auf und las vor: ». . . versteht man die Beurteilung eines künstlerischenWerkes durch einen sogenannten Kritiker. Bei Büchern nennt man diese Fachleute Literaturkritiker. Sie beurteilen den Wert eines geschriebenen Werkes und legen dar, warum es gut oder schlecht ist. Eine gute Rezension kann den Kaufwert oder den Ruhm eines Buches steigern, eine schlechte Rezension kann ihm schaden oder es ruinieren. Deshalb bezeichnet man eine schlechte Rezension auch als Verriss.«
    »Amen!« Tygers blaue Augen sprühten Funken. Der hagere Schlauberger hatte, ohne es zu wissen, den Nagel auf den Kopf getroffen.
    Zum ersten Mal wandte Tyger sich an mich. Sein Lächeln nahm geradezu grausame Züge an.
    »Miss Wolff«, sagte er. »Wie mir zu Ohren kam, bist auch du neu an dieser Schule. Vielleicht hast du dennoch Erfahrungen zu diesem Thema gesammelt? Oder zufällig schon einmal die Rezension – oder gar den Verriss – eines Literaturkritikers gelesen?«
    Ich wusste nicht, was plötzlich in mich fuhr. Ich musste mich gar nicht anstrengen. Die Worte kamen wie von selbst.
    »Zufälligerweise ja«, entgegnete ich höflich. »Im Unterricht meines alten Englischlehrers wurde ebenfalls ein Literaturkritiker erwähnt. Sein Name war William Alec Reed. Er wurde auch als der Mann mit der tödlichen Feder bezeichnet, weil seine Rezensionen ausgesprochen scharf waren. Einige davon habe ich gelesen und ein Schriftsteller, den Reed attackierte, nahm sich das Leben.«
    Ich bemühte mich, das Tuscheln meiner Mitschüler auszublenden und Tygers Blick standzuhalten.
    »Gewisse Menschen«, fuhr ich fort, »geben dem Literaturkritiker die Schuld an diesem Selbstmord. Ich persönlich finde, dass das ein bisschen zu weit geht. Sicherlich können Verrisse dazu führen, dass die Karriere eines Schriftstellers zerstört wird, aber wenn jemand beschließt, sich umzubringen, kann er dafür in letzter Instanz nur sichselbst verantwortlich machen. Deshalb nennt man es doch Freitod, oder nicht?«
    Tygers linkes Auge zuckte, während ich erneut von meinen Mitschülern gemustert wurde. Ob sie merkten, dass hier ein versteckter Zweikampf stattfand? Oder ahnten, dass es sich bei meinem alten Englischlehrer um ebenjenen Morton Tyger handelte, der wie der Teufel aus der Kiste plötzlich in meiner neuen Schule in Amerika aufgetaucht war?
    Es war mir gleichgültig. Und Tyger sorgte in diesem Punkt auch nicht für Klarheit.
    »Besten Dank für deine philosophischen Ausführungen in Sachen Selbstmord«, entgegnete er knapp. »Aber woran«, er löste seinen Blick von mir und wandte sich wieder der Klasse zu, »erkennt denn ein Literaturkritiker überhaupt, ob ein künstlerisches Werk gut oder schlecht ist?«
    Suzy meldete sich. »Er erkennt es, weil er Literatur studiert hat«, sagte sie. »Er hat Erfahrung. Er ist . . . wie sagt man, er ist objektiv.«
    Tygers Augenbraue zog sich fast bis zum Stirnansatz hoch. »Objektiv. So, so . . .«
    Er nippte erneut an seinem Tee, und als er die Tasse absetzte, traf mich sein Blick wie die Spitze eines Dolches.
    »Nun denn. Dann wollen wir doch gleich an dieser Stelle weitermachen. Stellen wir uns einfach vor, in diesem Klassenzimmer . . .« Tyger machte eine ausladende Armbewegung. » . . . sitzen fünfunddreißig Literaturkritiker. Studierte, erfahrene, objektive Fachpersonen.« Tygers Blick zielte wieder

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