Lucian
auf mich. »Ich werde euch jetzt einen Ausschnitt aus dem unvollendeten Roman eines Schriftstellers vorlesen. Sein Name ist Ambrose Lovell und sein Werk trägt den Titel Der letzte Besucher .«
Tyger holte einen Packen Papier aus seiner Ledertasche. »Über denInhalt muss ich nicht viel vorwegnehmen«, sagte er. »Ich werde euch einfach ein paar Zeilen zum Besten geben und ihr beurteilt sie. Damit könnt ihr euch bereits mit einer der wichtigsten Fähigkeiten eines Literaturkritikers vertraut machen. Diese objektiven Fachpersonen halten es in den meisten Fällen nämlich gar nicht für nötig, das ganze Werk eines Schriftstellers zu lesen. Ein kleiner Schmetterlingsausflug genügt ihnen, um das große Ganze zu beurteilen. Also, hört einfach nur zu und dann . . .«, wieder streifte mich Tygers Blick, »spielt ihr Gott. Euer Urteil entscheidet über den Aufgang oder Untergang des Schriftstellers. Seid ihr einverstanden?«
Unsicheres Murmeln machte sich im Klassenzimmer breit.
»Der Typ ist so was von schräg«, flüsterte Suzy und duckte sich unter Tygers Blick.
Tyger zog aus der Innentasche seiner Weste die goldene Taschenuhr hervor. Er klappte sie auf. Sein linkes Auge zuckte. Dann blätterte er in seinem Stapel, räusperte sich und begann zu lesen:
Der Vorhang fiel lautlos und einen Augenblick lang lag der prunkvolle Theatersaal in tiefem Schweigen, bis er von einem tosenden, nicht enden wollenden Applaus überrollt wurde.
Der Vorhang hob sich wieder und auf der Bühne verneigten sich die Schauspieler.
Alan saß neben Emma in der Ehrenloge. Die Perlen auf ihrem Kleid glitzerten im Schein der Kronleuchter und ihre Augen funkelten, als sie Alan den Kopf zuwandte. »Deine Worte«, flüsterte sie an seinem Hals. »Jetzt leben sie.«
Alan griff nach Emmas Hand. Zärtlich hielt er sie umschlossen, und während der Saal noch einmal unter dem rauschenden Beifallssturm erbebte, vernahm Alan im Inneren seiner Brust ein zartes, gleichsam entschlossenes Ziehen. Es fühlte sich an, als hätten unsichtbare Finger ein kleines Härchen aus seiner Herzkammer gezupft.
Alan zuckte zusammen und Emma sah ihn besorgt an. »Ist dir nicht gut?«
Alan erwiderte ihren Blick mit einem Lächeln. Er maß dem Vorfall nicht viel Bedeutung bei und tat damit das, was jeder normale Mensch tut, wenn ihm etwas widerfährt, das sich sein Verstand nicht erklären kann, das aber gleichzeitig von einem anderen, dunkleren Teil seines Bewusstseins in seinem vollen Ausmaß erfasst wird. Er drängte die sonderbare Empfindung zurück. Stattdessen drückte er Emmas Hand nur noch fester und sah wieder zur Bühne, auf der soeben die Premiere seines Stückes stattgefunden hatte. Ja, seine Worte waren zum Leben erwacht und Emma war an seiner Seite. Nichts sonst auf der Welt zählte.
Die Schulklingel ertönte genau in dem Moment, in dem Tyger das Manuskript niederlegte.
Niemand rührte sich. Für die anderen mochte es an der Autorität liegen, die dieser Mann ausstrahlte. Ich hatte einen anderen Grund. Ich war gelähmt.
»Nun«, sagte Tyger fröhlich. »Es scheint, als müssten wir die kleine Aufgabe verschieben. Ich schlage vor, ihr erledigt sie zu Hause. Wem der kurze Ausschnitt für ein objektives Urteil dieses Werkes genügt, braucht sich keinen Zwang anzutun. Für den Rest«, Tyger hievte jetzt einen ganzen Stapel von Papieren auf den Tisch, »habe ich das letzte unvollendete Werk von Ambrose Lovell kopiert. Also dann. Ich wünsche den Damen und Herren noch einen angenehmen Nachmittag.«
Tyger klopfte mit seinen Fingerknöcheln auf den Tisch, verbeugte sich leicht und ging zur Tür.
Erst da erwachte ich aus meiner Starre. Ich sprang so heftig vom Stuhl auf, dass er nach hinten kippte, und raste hinter Tyger her, aber als ich im Flur stand, war er fort. Und obwohl ich ihn in der ganzen Schule suchte, war er wie vom Erdboden verschluckt.
SIEBENUNDZWANZIG
Aus dem Garten drang Vals Lachen in mein Zimmer. Als ich am Nachmittag von der Schule nach Hause gekommen war, hatte sie mit Faye am Esstisch gesessen und gemalt. Faye hatte mich stirnrunzelnd angesehen, mir aber keine Fragen gestellt, wofür ich ihr ziemlich dankbar war. Val dagegen, sie trug einen riesigen Hut mit Blumen zu einem roten Seidennachthemd, das ihr bis zu den nackten Füßen reichte, war auf mich zugestürmt, um mich zum Tisch zu ziehen, aber ich hatte mich von ihr losgemacht und war in meinem Zimmer verschwunden. Von Dad hatte ich eine Nachricht vorgefunden, dass er am frühen
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