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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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Michelle nass, die am Rand saß und die Beine ins Wasser baumeln ließ. Als Val mich sah, winkte sie mir mit beiden Armen zu. »Komm rein«, rief sie. »Komm rein!«
    Ich schüttelte heftig mit dem Kopf. Dad war im Haus verschwunden und ich konnte keine Sekunde länger hierbleiben. Es war einfach zu viel für mich.
    Vor der Haustür, an ihren Bentley gelehnt, stand Faye. Sie ging zur Beifahrertür und hielt sie auf.
    »Steig ein«, sagte sie. »Und sag deinem Vater Bescheid, dass du mit mir eine Runde drehst.«
    Wieder schüttelte ich mit dem Kopf, aber Faye hielt mir das Handy hin. »Wenn du dich weiter so aufführst, sperren sie dich ein. Also, ruf ihn an.«
    Ich schickte eine SMS und postwendend kam Dads Okay zurück. Vermutlich war er erleichtert, dass ihm jemand seine geistesgestörte Tochter abnahm.
    Faye fuhr mit mir durch die Gegend. Eine Weile lang saß ich stummneben ihr, während das Radio lief. Die Sonne war untergegangen, wir fuhren über den Pacific Coast Highway, immer am Meer entlang, in die entgegengesetzte Richtung von Venice Beach. Die Berge wurden höher, das Meer wurde wilder, der Himmel wurde dunkler.
    Ich erzählte Faye von Tygers Auftritt in meiner neuen Schule. Sie reagierte ähnlich wie gestern am Strand. Sie hörte einfach zu, ohne viel zu kommentieren. Erst als ich ihr von Lovells Roman erzählte, spiegelte sich eine Empfindung auf ihrem Gesicht.
    Sie sah böse aus, verletzt, als hätte Tygers Verhalten sie selbst getroffen. Für einen Moment kam es mir so vor, als wollte sie den Wagen anhalten. Doch dann trat sie wieder auf das Gaspedal.
    »Das grenzt an Quälerei«, sagte sie, ihren Blick starr auf die Straße gerichtet.
    »Ich frage mich nur, warum«, murmelte ich. »Was will er von mir?«
    Faye drehte sich zu mir. »Du musst es rausfinden«, sagte sie. »Und wenn du nicht klarkommst, rufst du mich an. Jederzeit – versprochen?«
    Ich nickte und dachte, dass Faye ein Geschenk des Himmels war.
    Englisch war unsere vierte Stunde, direkt vor der Lunchpause. Als Tyger das Klassenzimmer betrat, kam er gleich zur Sache und erkundigte sich süffisant, wie unsere Urteile ausgefallen waren.
    Mein Finger schoss in die Höhe.
    »Ja?« Tyger lächelte mich mit seiner hochgezogenen Augenbraue an. »Was sagt die Literaturkritikerin von morgen zu dem künstlerischen Werk? War es gut? War es schlecht? Was bekomme ich zu hören?«
    Ich stand von meinem Platz auf und ging zu Tygers Pult. Mir war bewusst, dass mich meine Klassenkameraden anstarrten, aber es kümmerte mich einen Dreck.
    »Ich persönlich fand das künstlerische Werk äußerst spannend«, zischte ich. »Ich würde mich gerne mit Ihnen darüber unterhalten. Und was den Literaturkritiker betrifft . . .«
    Ich zog die Radierung aus meiner Tasche und schob sie auf Tygers Pult. » . . . könnte es vielleicht sein, dass er einen anderen Grund hatte, den Schriftsteller anzugreifen? Könnte es sein, dass sich William Alec Reed für etwas rächen wollte?«
    Tyger schien nicht mal überrascht. Er zuckte nur mit den Schultern und gab sein ironisches Lächeln zum Besten.
    »Warum führen wir dieses Gespräch nicht unter vier Augen fort?«, fragte er. »Komm doch nach der Stunde in mein Sprechzimmer. Und jetzt setz dich bitte wieder auf deinen Platz.«

ACHTUNDZWANZIG
    Tygers Sprechzimmer war ein kleiner, altmodisch eingerichteter Raum mit Bücherregalen, einem gepolsterten Armsessel und einem dunklen Sekretär, hinter dem mein Englischlehrer jetzt Platz nahm. Es roch nach kaltem Tabak.
    Tyger goss sich eine Tasse Tee ein, dann zündete er sich eine Zigarre an und lehnte sich zurück. Ich hielt die Luft an, um den verdammten Schluckauf zu unterdrücken. Er hatte eingesetzt, als ich Tyger unter dem Getuschel meiner Mitschüler aus dem Klassenzimmer gefolgt war, und rührte wohl daher, dass sich meine Lunge für den Rest der Englischstunde nur noch auf das Einatmen konzentriert hatte, während das Ausatmen in kleinen, schmerzhaften Stößen vor sich gegangen war.
    Ich legte das Blatt mit der Radierung auf den Tisch.
    »Was machen Sie hier?«, fragte ich gepresst. »Was bedeutet dieses Manuskript? Warum haben Sie daraus vorgelesen? Warum ausgerechnet diese Stelle? Was wissen Sie . . .«
    Ich rang nach Luft, jetzt brach der Schluckauf doch wieder heraus, sodass ich die letzten Worte nur noch flüstern konnte. »Was wissen Sie über mich?«
    Tyger nippte an seinem Tee und sah mir belustigt dabei zu, wie ich die Arme vor der Brust verschränkte.
    »Gehen wir

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