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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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eine Frage nach der anderen an«, sagte er. »Warum ich hier bin, willst du wissen. Nun, sagen wir einfach: Deine Wenigkeitspielt dabei eine nicht ganz unbedeutende Rolle. Was das Manuskript betrifft . . .« Tyger lächelte dünn. »Ich fand Ort und Anlass angemessen. Was ich über dich weiß . . .« Er nippte erneut an seinem Tee. ». . . dazu kommen wir später. Aber wie ich sehe, hast du deine Hausaufgaben gemacht. Und ein hübsches Kunstwerk hast du außerdem gefunden.« Tyger drehte das Bild, sodass ich es jetzt kopfüber sah. »Woher hast du das?«
    Ich unterdrückte einen neuen Schluckauf und tippte auf den blonden Mann auf dem Bild. »Sie wissen, wer das ist«, erwiderte ich. »Sie kennen die Geschichte, die sich zwischen den beiden Männern abgespielt hat.«
    »Oh ja«, sagte Tyger. »Ich kenne sie. Der blonde Sunnyboy ist William, der Dunkelhaarige heißt Ambrose. Die beiden hätten gute Freunde werden können, waren es anfangs sogar. Ambrose liebte es, gute Geschichten zu schreiben, William liebte es, gute Geschichten zu lesen.«
    Tyger strich sich nachdenklich über die Oberlippe.
    »Dein Urgroßvater war von Ambroses Geschichten äußerst angetan und an seiner Berühmtheit nicht unwesentlich beteiligt, denn seine ersten Kritiken waren Lobeshymnen, mit denen er Ambroses Werk einem breiten Publikum zugänglich machte. Bis den beiden schließlich eine weitere Liebe in die Quere kam.«
    Tyger deutete auf die Frau. »Ambrose verliebte sich in Williams Verlobte. Und Williams Verlobte verliebte sich in Ambrose.« Tyger zeigte auf die verschränkten Finger der beiden, das winzige Detail, das ich erst gar nicht bemerkt hatte. »Hier war es noch ein Geheimnis«, sagte er. »Aber bald darauf konnten die beiden es nicht länger verschweigen. Sie wussten, dass sie füreinander geschaffen waren. Sie taten das einzig Richtige. Sie gingen zu William und sagten ihm die Wahrheit. Emily löste ihre Verlobung mit ihm und heirateteAmbrose.« Tyger lächelte mich an. »Wie sagte der deutsche Dichter Heine noch so schön: Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu. Und wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei.«
    »Also ist es wahr«, sagte ich. Der Schluckauf hatte aufgehört, ich hatte meine Stimme wieder. »Mein Urgroßvater hat die Werke von Ambrose Lovell aus Rache verrissen.«
    »Rache.« Jetzt war es Tyger, der scharf die Luft einzog, und ich dachte, dass das die erste spontane Reaktion war, die ich jemals bei ihm erlebt hatte. »Rache wofür? Ambrose hat sie ihm nicht weggenommen. William hatte sie längst verloren. Menschen sind kein Besitz. Ambrose und Emily sind ihren Gefühlen gefolgt. Aber was dein Urgroßvater getan hat, das war ein Verbrechen. Er hat Ambroses Werke nur aus einem Grund in der Luft zerrissen: um ihn zu zerstören. Dein Urgroßvater war ein Lügner, ein Betrüger und ein ausgesprochen feiger Mörder.« Tygers blaue Augen waren kalt wie Eiskristalle.
    Mein Herz raste. »Woher wissen Sie das alles?«, fragte ich. »Und vor allem: Warum . . . regt es Sie so furchtbar auf? Sind Sie . . . mit Ambrose Lovell verwandt?«
    Tyger stieß einen Rauchkringel aus. Sein Gesicht zeigte keine Regung, doch die Äderchen auf seiner Stirn pulsierten und pochten. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass seine Kälte bröckelte. Etwas in ihm schien zu lodern, aber es war kein Hass, es war etwas anderes, das brannte und an ihm fraß und ihn dazu trieb, mir gegen seinen eigenen Willen die Wahrheit zu sagen.
    »Verwandt«, wiederholte Tyger, »ist nicht unbedingt der richtige Ausdruck. Man könnte eher sagen, ich war mit Ambrose Lovell verbunden. Ja, ich glaube, das trifft es besser. Ambrose Lovell und ich waren einander sehr verbunden.«
    »Wie meinen Sie das? Was heißt das? Waren Sie Lovells Freund?«,fragte ich und wusste im gleichen Moment, was für ein Blödsinn das war. Sie konnten keine Freunde sein. Tygers Alter war schwer zu schätzen, seine eisgrauen Haare täuschten. Mitte vierzig. Ende sechzig. Alles dazwischen hielt ich für möglich. Aber Ambrose Lovell hatte sich 1928 das Leben genommen, siebenundvierzigjährig, wenn ich mich richtig erinnerte.
    »Wir waren mehr als Freunde«, entgegnete Tyger. »Ambrose Lovell war mein Mensch.«
    Ich verstand nicht, was er meinte.
    Doch dann begegnete ich seinem Blick und sah, wie das ironische Funkeln in seinen Augen erlosch. Tyger zeigte mir ein neues Gesicht, aus dem die Ironie, die Arroganz und die Überheblichkeit verschwunden waren. Sie hatten

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