Lucian
Abend zurück sein würde.
Ich schloss das Fenster. Vals Stimme erstarb. Eine Schar von Vögeln stieg von irgendwoher in den Himmel auf, sie bildeten Formationen wie in einer einstudierten Choreografie, erst ein V, dann eine Linie. Schnurgerade folgten sie einander und verschwanden am Horizont.
Ich setzte mich an den Tisch und starrte auf einen Packen Papier vor mir – den halb fertigen Roman von Ambrose Lovell. Seine Hauptfigur war der siebenundvierzigjährige Schriftsteller Alan und der erste Satz lautete:
Der Raum, in dem Alan seine letzte Geschichte erzählte, hatte braune Gardinen.
Nach einer knappen, fast sachlichen Beschreibung des kargenSchreibzimmers leitete Lovell zu der Nacht im Theater über, in der Alans Stück Premiere gehabt und der Schriftsteller den feinen Riss im Inneren seiner Brust verspürt hatte. Kurz darauf tauchte ein Fremder in seinem Leben auf, zu dem Alan eine seltsame Anziehung verspürte. Dieser Mann hatte keine Erinnerungen mehr an seine Herkunft, er hatte keine Handlinien, aber dafür hatte er Träume und immer handelten sie von Alan. Zum Teil waren es belanglose, zum Teil dramatische Situationen. Er träumte, wie Alans Verleger sich von ihm zurückzog, nachdem sein Werk jahrelang verrissen wurde. Er träumte, wie Alan vor dem Sterbebett eines kleinen Jungen kniete. Er träumte, wie Alan eine blutende Frau in den Armen hielt. Er träumte, wie sich Alan in seinem Schreibzimmer erhängte, weil er nicht mehr leben wollte.
Und alles, was der Fremde träumte, wurde wahr.
Alans Stücke wurden nicht mehr aufgeführt. Alans Sohn starb an den Folgen einer Lungenentzündung. Seine Frau Emma, eine Tänzerin, wurde von einem Automobil angefahren. Sie verblutete in Alans Armen und ein knappes Jahr später nahm sich der Schriftsteller das Leben.
Ich blätterte zurück, las einzelne Sätze und Abschnitte noch einmal und hatte dabei das Gefühl, dass die Worte mich ansprangen, als wären sie lebendig.
»Sie müssen einen Namen haben, Sir«, sagte Alan. »Jeder hat einen Namen.«
»Also bin ich scheinbar nicht jeder«, gab ihm der Fremde zur Antwort und betrachtete seine Hände mit den langen feingliedrigen Fingern. »Ich kenne meinen Namen nicht, noch weiß ich mein Alter oder meinen Geburtsort.« Sein Gesicht sah müde aus und mit einem Mal war Alan erfüllt von einer Traurigkeit, die er sich nicht erklärenkonnte. Sie war wie das Echo des Fremden, der ihn tief in seinem Innersten rührte.
»Worte sind mein Beruf«, sagte Alan und seine Stimme klang fest. »Ich werde Ihnen einen Namen schenken.«
»Bei meiner Seele, ich habe sie nicht kommen sehen . . .«
Die Worte des Fahrers hallten durch die stille Nacht, während er in raschen Schritten davoneilte, um Hilfe zu holen. Alan saß auf dem Trottoir. Stumm hielt er Emma in seinem Arm. Von ihrer Schläfe rann das Blut herab und tropfte auf das dunkle Pflaster. Es war scharlachrot wie die Vorhänge in jener leuchtenden Premierennacht im Theater. Irgendwo in der Ferne grollte ein Donner und Alan wusste, nun würde geschehen, was der Fremde geträumt hatte. Er bettete Emmas Kopf auf seinen Schoß. Ihre hellen Augen blickten zu ihm hinauf, doch Alan blieb stumm. Er, der niemals um Worte verlegen gewesen war, hatte nun kein einziges mehr für sie.
Emma lächelte ihn an. »Hab keine Angst«, sagte sie sanft. »Ich bin ja nicht allein.«
Mit diesen Worten schloss sie die Augen. Ihr blasses Gesicht, noch immer so schön, schimmerte hell im Mondlicht. Der Regen fiel lautlos. Nur noch das Ticken von Alans Uhr war jetzt zu hören. Sie schlug wie ein lebendiges Herz in der Tasche seines Revers. Alan dachte an den Tag, an dem er ihm begegnet war: seinem Tod, seinem letzten Besucher, und in diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass dies der Anfang vom Ende war.
Die letzte Zeile des unvollendeten Manuskriptes schließlich kannte ich. Sebastian hatte sie in seinem Referat über Lovell zitiert. Er hatte gesagt, es bestünden keinerlei Zweifel, dass der Roman autobiografische Züge trug.
Als Alan seinen Entschluss gefasst hatte, erfüllte ihn tiefe Zuversicht. Es musste ein Ort existieren, an dem der Mensch erlöst wurde von allem, was an seiner Seele fraß, und es wurde Zeit, diesen Ort aufzusuchen.
Ich hörte das Echo von Sheilas gekreischtem »Iiiiiiiih, das ist ja ekelhaft«, als Sebastian davon sprach, wie Lovells Frau in den Armen des Schriftstellers verblutet war, und ich sah Tyger auf Sebastians Stuhl sitzen und mit der flachen Hand auf die
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