Lucian
Bücher gab es nicht im Haus. Die Wesen schienen alle in FinnsKopf zu wachsen. Wir wurden in Coggeshall geboren, einer kleinen englischen Stadt in der Nähe von Ipswich, und wir lebten in einer Holzhütte am Stadtrand. Dort wären wir auch gestorben. Magst du?« Faye hielt mir das Wasserglas hin.
Ich schüttelte den Kopf, erschrocken über die Beiläufigkeit ihrer Frage. Sie trank das Glas leer und wog es in ihren kleinen Händen hin und her, während sie weitersprach.
»Es hatte seit Wochen nicht geregnet. Die Luft war so staubig, dass Finn husten musste, wenn er nur aus dem Haus ging. In der Nacht seines Todes war es so heiß, dass sich Finn zum Schlafen auf den Steinboden in der Kate legte. Seine Mutter war nicht zu Hause, sie arbeitete in der nahe gelegenen Spinnerei. Als . . .«
»Warte mal«, unterbrach ich Faye. »In welchem Jahr wurde Finn . . . ich meine . . . wurdet ihr denn geboren?«
Ich musste mir ständig bewusst machen, dass das, was ich gerade zu hören bekam, kein Märchen, sondern eine wahre Geschichte war, und Fayes Antwort machte es mir nicht unbedingt leichter.
»1806?« Faye runzelte die Stirn. »Oder 1807?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann mir Zahlen furchtbar schlecht merken«, sagte sie mit leichter Ungeduld. »Jedenfalls brach in dieser Nacht das Feuer aus. Das Haus war winzig und das Holz brannte wie Zunder. Finn wäre wahrscheinlich nicht einmal aufgewacht. Er wäre im Schlaf erstickt an dem giftigen Rauch.«
Faye stand auf. Sie ging zur Wand und wanderte an den Bildern entlang. Zweihundertundzwei, dachte ich. Oder zweihundertundrei. Das Mädchen vor mir, das aussah, als wäre sie jünger als ich, war über zweihundert Jahre alt – und damit fast hundert Jahre älter als Tyger, der ihr Vater hätte sein können. Vor einem der Drachen, aus dessen geblähten Nüstern feuriger Dampf quoll, blieb Faye stehen.
»Dieses Bild hatte Finn gemalt, bevor er an dem Abend schlafenging«, sagte sie und drehte sich zu mir um. Die Sonne war untergegangen und im Haus wurde es dunkler und dunkler. Fayes rote Haare trotzten der Dämmerung, sie leuchteten und auch in ihren grauen Augen erschien jetzt ein Funkeln.
»Bei mir war es der Wunsch zu malen«, sagte sie. »Es ging mir nicht um Finn. Was mich an unserem Tod zweifeln ließ, war ein Bedürfnis, das ich plötzlich in mir selbst verspürte. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, wenn aus Punkten, Linien und Strichen solche wunderbaren Kreaturen wurden. Ich wollte wissen, wie es war, sie selbst zu erschaffen.«
Fayes blasses Gesicht glühte und wieder erinnerte sie mich an Spatz. Spatz war ein Mensch, sie war Anfang vierzig, sie lebte ein normales Menschenleben und ihre Art von Kunst war mit der von Faye oder Finn nicht zu vergleichen. Aber sie hatte dieselbe weltfremde Art wie Faye – und hätte ihr Motiv, ein Mensch zu werden, wahrscheinlich besser verstanden als ich.
»Was wäre, wenn ich ein Mensch wäre und es ausprobieren konnte?«, sagte Faye. »Je mehr Finn im Schlaf nach Luft rang, desto stärker wurde der Gedanke in mir.«
Faye strich über das Bild mit dem Drachen.
»Als ich zu mir kam, war ich nackt. Ich lag mitten in einem Wald. Ich war allein. Ich wusste nicht, wer ich war, ich wusste nicht, wie ich an diesen Ort gekommen war. Ich vermisste keine Mutter, keinen Vater. Ich verspürte keine Angst, ich war nicht verletzt. Das Einzige, was mich beunruhigte, war ein feiner, ziehender Schmerz in meinem Inneren.«
Faye legte ihre Hand auf die Brust. Ich tat es ihr nach, es war eine automatische Bewegung. Der Schmerz war wieder da. Nicht annähernd so stark wie in den letzten Wochen, aber ich spürte ihn.
Im Zimmer war es jetzt so dunkel, dass die Konturen verschwammen. Die Bilder, die Möbel, Faye. Alles wurde vage wie in einem Traum.
Faye ging zum Kamin in der Ecke des Zimmers. Sie stapelte ein paar Holzscheite übereinander, schob Streifen eines zerrissenen Cornflakes-Kartons dazwischen und hielt ein brennendes Streichholz in den Kamin. Die kleine Flamme leckte an den Kartonfetzen und der Geruch von Rauch erfüllte die Luft. Faye beugte sich vor, pustete in die Flammen und das Feuer breitete sich knisternd im Kamin aus. Faye setzte sich davor auf den Boden.
»Noch in derselben Nacht begegnete ich Finn«, fuhr sie fort. »Er fand mich im Wald, er hatte schlecht geträumt und war aus dem Haus gelaufen. Als ich ihn traf, ging es mir besser. Ihm schien es mit mir genauso zu gehen. Seine Mutter nahm mich wie selbstverständlich
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