Lucian
wackelte sie mit dem Kopf, aber sie schien nicht mehr bei der Sache zu sein.
»Ich werde dir den Kopf abreißen, peng-peng, ich werde dich fressen, grrr, grrr. Peng, peng.«
Irgendwann träumte ich von seinem Tod. Ich sah ihn an der Gardinenstange hängen.
Und wenn es auch bei Lucian so gewesen war? Wenn Lucian meinen Tod geträumt hatte, vielleicht sogar das Gleiche sah, Nacht für Nacht, das auch mich nicht losließ? Die Glasscherben, das viele Blut, mich, um mein Leben flehend . . . war dieser geträumte Tod wirklich gewesen? War das unser Tod gewesen? Hatte Lucian mich retten,mich schützen wollen? Hatte auch er sich diese Frage gestellt? Was wäre, wenn?
Für einen Moment versuchte ich, diesen Gedanken zu halten, aber er entglitt mir, wie Val vorhin meinem Griff entglitten war.
Lucian war zu Janne gegangen. Lucian hatte mit Janne gesprochen und Janne hatte mich hierherverbannt, fort von ihm. Wenn Tyger mir wirklich die Wahrheit gesagt hatte, warum hatte Lucian mich dann verraten?
Grrr. Grr . . . Peng-peng.
»Hör auf!« Ich packte Val bei den Handgelenken, so fest, dass sie sich nicht mehr entziehen konnte. »Hör auf! Du nervst!«
Val sah zu mir hoch. Enttäuschung schimmerte in ihren blauen Augen. Ihre Unterlippe zuckte, sie presste die Lippen aufeinander, dann beugte sie sich herunter und biss mir mit ihren kleinen spitzen Zähnen in die Hand. Der Schmerz hatte beinahe etwas Erlösendes. Die Abdrücke von Vals Gebiss hatten sich in meine Haut gebohrt, an einer Stelle blutete es sogar.
»Das hast du nun davon«, sagte Val in einer gespielten Erwachsenenstimme. »Wenn du so ein Blödi bist. Genau. Ein Blödi. Ein blöder Blödi! Grrrrrrrrrrrrrr!«
»Herrje, was . . .«
Mein Kopf flog herum. Michelle war ins Wohnzimmer gekommen. Ihr Blick fiel als Erstes auf mich, aber als sie Faye unter dem Tisch hocken sah, schien ihr klar zu werden, wer diesmal das Chaos verursacht hatte. Sie atmete aus, dann stemmte sie in gespielter Empörung die Hände in die Hüften und sagte zu Val: »Hat mein kleiner Räuber heute wieder seinen Großkampftag?«
»Ich bin kein Räuber, du Blödi!«, rief Val. »Grrrrrrrrrr. Ich bin ein Drache. Und ich werde dich fressen, grrrrr . . .« Sie stürmte auf Michelle zu, die lachend die Arme ausbreitete und sie auffing. Als Valihre Ärmchen um sie schlang und sie – diesmal zärtlich wie ein Kätzchen – in die Nase biss, fing Michelle wieder an zu lachen. »Du verrücktes kleines Beißhörnchen«, sagte sie.
Die beiden verschwammen vor meinen Augen, und als ich sie durch den Schleier meiner Tränen anschaute, sah ich plötzlich Janne vor mir.
»Willst du dein armes Opfer nicht erlösen?«, fragte Michelle und deutete unter den Tisch. Val schüttelte ihre blonden Locken und ich ergriff die Gelegenheit.
Ich kroch unter den Tisch und löste die Knoten von Fayes Knebel.
»Ich muss mit dir sprechen«, flüsterte ich. »Unbedingt.«
Faye rollte wieder mit den Augen, dann hielt sie mir ihre verknoteten Hände hin.
Val hockte auf Michelles Arm und beobachtete meine Rettungsaktion von ihrem erhobenen Posten.
»Pfff«, machte sie abfällig. »Jetzt ist es leicht. Aber an mir wärst du nicht vorbeigekommen.«
Ich wickelte den Seidenschal von Fayes Händen. Val hatte ganze Arbeit geleistet. Fayes Handgelenke waren so fest eingeschnürt, dass ihre Finger richtig blutleer aussahen. Auf ihren Handgelenken zeichneten sich rote Striemen ab.
»Wann«, flüsterte ich, als ich das letzte Stück Schal von ihren Handgelenken zog, »wann kann ich mit dir sprechen?«
Faye antwortete nicht. Sie sah mich nur an, die Augen groß und grau. Dann spreizte sie ihre Finger und hielt ihre Hände hoch in die Luft, wie zum Zeichen für Val, dass sie sich ergeben hatte.
Val und Michelle waren immer noch ein paar Meter von uns entfernt, sodass sie nicht sehen konnten, was Fayes Hände mir sagten:
Sie war eine von ihnen.
Ich war nicht einmal überrascht. Im Gegenteil. Ich fühlte michzum ersten Mal seit meiner Ankunft in Los Angeles sicher und beschützt.
Faye kroch mit erhobenen Händen an mir vorbei unter dem Tisch hervor. »Mächtiger Drache Valentina«, flehte sie mit ihrer hohen Stimme. »Überlässt du mich dem holden Ritter Rebeccus, damit ich ihn mit auf mein Schloss nehmen darf? Erweist du mir diese unermessliche Güte deines Herzens?«
Michelle lachte und Val, die einzusehen schien, dass die Kampfarena für heute geschlossen war, sagte gönnerhaft: »Na gut. Dann nimm deinen Blödi halt mit.
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