Lucian
Fliege verscheuchen wollte. »Wie auch immer: Ich fand mich nicht mit meinem Verlust ab, doch ich lernte, damit umzugehen. Und ich kam zu Geld. Manche Träume haben auch ihr Gutes. Der Aktienmarkt ist eine großartige Erfindung, wenn man über gewisse Informationen im Voraus verfügt, nicht wahr? Meine Firma Eternal Fonds ist recht erfolgreich.«
Ich starrte Tyger an, aber er wich meinem Blick aus.
Der Firmenname. Auf dem Klingelschild. Im Holzdamm.
»Nein«, krächzte ich.
»Doch.« Tyger nickte. »Lucians selbstloser Gastgeber in Hamburg war ich.«
»Wo?«, schrie ich. »Wo?«, fauchte ich. »Wo ist Lucian? Wo ist er? Wo ist er jetzt?«
Tyger sah mir in die Augen. Sein Gesicht, seine ganze Haltung war ruhig, aber dahinter stürzte etwas ein, das ihn bis jetzt aufrecht gehalten zu haben schien. Tyger, der selbstherrliche Fuchs, hatte sich binnen Sekunden in einen geprügelten Hund verwandelt. In seinen Augen spiegelte sich eindeutig und unverkennbar ein schlechtes Gewissen. Tyger fühlte sich schuldig.
»Ich weiß nicht, wo Lucian ist«, sagte er leise. »Ich habe ihn seit deinem Abflug nach Los Angeles nicht mehr gesehen.«
Damit stand er auf und ging zur Tür. Als er an mir vorbeikam, blieb er stehen. Für einen winzigen Moment legte er mir die Hand auf die Schulter. Es war eine hilflose Geste.
Ich schüttelte die Hand ab. Die Berührung brannte auf meiner Haut und ich spürte, wie eine irrsinnige Wut in mir hochstieg. Ich fühlte mich wie ein wildes Tier, das zu lange eingesperrt gewesen war, und nun hatte sich unvermittelt die Tür des Käfigs für mich geöffnet. Wohin? Wohin sollte ich jetzt gehen? Was sollte ich jetzt tun?
»Wende dich an Faye«, sagte Tyger, als hätte ich die Fragen laut gestellt. »Wende dich an das Kindermädchen deiner Schwester.«
Einen Moment später war er verschwunden.
NEUNUNDZWANZIG
Es war unmöglich, Faye auch nur eine einzige Minute allein zu erwischen. Val belagerte sie wie ein junger Drache seine Prinzessin. Als ich aus der Schule kam, hatten die beiden das Wohnzimmer in einen riesigen Abenteuerspielplatz verwandelt. Ich erkannte den sterilen Raum kaum wieder. Kissen stapelten sich zu wackeligen Türmen, die Sofas waren mit bunten Tüchern bedeckt. Vor dem Steinway-Flügel hatte offensichtlich ein Popcornhagel stattgefunden. Der Boden war übersät von klebrigen Krümeln, Val musste in ihnen herumgetrampelt sein.
Faye kauerte unter dem Tisch. Ihre gefalteten Hände waren mit einem Seidenschal, der ziemlich teuer aussah, an eins der Tischbeine gefesselt, während Val um sie herumtobte und einen Kriegstanz aufführte. Sie hielt einen Kochtopf in der Hand und trommelte mit einer Schaumkelle darauf herum. Das dröhnende Scheppern tönte durchs ganze Haus, während Val sang und schrie und Faye in gespielter Angst mit den Augen rollte und mit dem Kopf wackelte. Ihre langen roten Locken fielen ihr über die Schultern wie ein Vorhang. Auch heute trug sie wieder eins ihrer Mädchenkleider, zu groß, zu lang und trotzdem war sie umwerfend schön.
»Du bist der Ritter«, schrie Val mir zu. »Komm schon, du musst der Ritter sein. Befrei sie, kämpfe mit mir. Grrrrrrr!« Sie fauchte mich an, schlug weiter mit ihrer Kelle auf den Topf und glitt mir, als ich ihre Hände festhalten wollte, wie ein nasser Fisch aus den Fingern.
Ich starrte ihr nach, erst merkte ich gar nicht, wonach ich suchte, und dann wurde es mir plötzlich klar.
Am Anfang wird der Mensch geboren. Aber nicht allein. Mit jedem Menschen kommt ein zweites Wesen zur Welt, das ihn begleitet. Von der Geburt . . . bis in den Tod .
Ich musterte Val, die offensichtlich etwas besaß, das ich verloren hatte. Ich hielt Ausschau nach einem Zeichen, nach einem sichtbaren Beweis dafür, dass Tyger mir die Wahrheit erzählt hatte. Aber ich sah nur ihre in der Luft fliegenden Haare, ihren kleinen, vor Leben sprühenden Körper, der durch das Wohnzimmer wirbelte.
Auch in meinem Kopf wirbelte es. Es wollte nicht aufhören und die Frage nach Lucian trommelte im Rhythmus von Vals Schlägen in meiner Brust. Wo war er? Was war mit ihm geschehen?
Was wäre, wenn sich die Zeit zurückdrehte? Was wäre, wenn ich ein Mensch würde? Wenn Lovell und ich eine zweite Chance bekämen. Was wäre, wenn?
»Grrrr. Grrrr.« Val kreischte lauter, höher, wurde immer euphorischer in ihrem Drachenspiel, während Faye unter dem Tisch ganz still geworden war. Sie sah mich an, ihre grauen Augen ließen mich nicht los, nur wenn Val zu ihr schaute,
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