Lucian
auf, und als wir merkten, dass mich niemand vermisste, blieb ich. Sie nannte mich Faye und sagte, ich sei die gute Fee im Haus.«
»Wie habt ihr es herausgefunden?«, fragte ich. »Wie habt ihr erkannt, wer du wirklich warst? Hat dich auch . . .«, ich suchte nach Tygers Worten, »jemand aufgeklärt?«
Faye schüttelte den Kopf. »Wir fanden es allein heraus. Meine fehlenden Handlinien, meine besonderen Fähigkeiten, meine Träume von Finn, die alle wahr waren – oder wahr wurden, hier und da mit kleinen Abweichungen, aber das Wesentliche stimmte – und irgendwann wussten wir einfach, was all das bedeutete. Für uns war es fast wie ein Spiel, ein Abenteuer, das wir nicht infrage stellten. Auch Finn träumte immer wieder von der Nacht, in der das Feuer sein Haus erfasste, und als in seinem Traum der Todeskampf einsetzte, hat er mich gesehen.«
Eine heiße Welle jagte durch meine Brust. »Und wie . . . sahst du aus?«, flüsterte ich. »Als du Finns Begleiterin warst?«
Faye zuckte vage mit den Schultern. »Finn konnte es nicht beschreiben. Er hat ein paar Mal versucht, mich so zu malen, wie er mich in jenen Sekunden wahrgenommen hat, aber es ist ihm nie gelungen. Ich hatte kein Gesicht, keine Gestalt, keine Hände, Arme oder . . . Flügel.«
Faye lächelte, nicht zynisch wie Tyger in seiner Sprechstunde, sondern eher belustigt. »Finn sagte mal, vielleicht wie Nebel oder wie ein blasser Schatten«, fuhr sie fort. »Aber auch das träfe es nicht wirklich. Er meinte, er hätte einfach gewusst, dass ich da war. Er hatte im Traum sogar zu mir gesprochen. Er . . .«
»Nein«, rief ich. »Warte!« Ich presste meine Hände vor den Mund. Ich schloss die Augen. Aber es waren nicht die Bilder aus meinem Albtraum, die jetzt vor mir auftauchten. Es waren die Bilder vom Krankenhaus nach meinem Sturz von der Schaukel. Bis jetzt hatte ich diese Bilder immer nur aus Erzählungen gekannt. Aber jetzt sah ich plötzlich mich selbst auf der Trage liegen. Ich sah die Ärzte, die sich über mich beugten, ich sah die Hektik im Zimmer, die Geräte, die Werkzeuge, die Schläuche. Aber all das ging mich nichts an. Was mich anzog, war genau das, was Fayes Mensch im Traum gesehen hatte. Dieses Wesen, von dem ich plötzlich wusste, dass es . . . bei mir war. Es war, wie Finn es über Faye gesagt hatte. Was ich wahrnahm, konnte ich nicht beschreiben – aber es gehörte zu mir und ich hatte es gerufen.
Aus den ächzenden Holzscheiten im Kamin löste sich ein Funken, lautlos stob er in die Luft und erlosch. Ich sah Lucian und mich vor dem Feuer am Falkensteiner Ufer sitzen und der Stein in mir sank noch tiefer. Mein Atem ging flach und schnell.
»Soll ich lieber aufhören?«, fragte Faye. Plötzlich wirkte sie unsicher.
»Nein«, presste ich hervor. »Erzähl weiter!«
Faye ließ das leere Wasserglas in ihren Schoß sinken. »Ich hatte ebenfalls von Finns Tod geträumt«, sagte sie. »Eigentlich brauchtenwir nicht viel mehr zu tun, als nachts wach zu bleiben und dafür tagsüber mehr zu schlafen. Als die heißen Tage kamen, waren wir gewarnt, und als das Feuer ausbrach, liefen wir aus dem Haus und schauten zu, wie es in Flammen aufging.«
Das aufgestapelte Holz im Kamin brannte jetzt lichterloh, während durch den Raum langsam und zögerlich die Schatten tanzten.
»Aber dann . . .« Ich versuchte zu verstehen, was das hieß, »aber dann hast du es geschafft. Du hast deinen Menschen nicht verloren, sondern ihn gerettet.«
Faye wickelte sich das rote Haar um den Hals, als wäre es ein Schal oder ein Strick. Sie nickte. »Ich hatte Finn gerettet und nun hätte ich wieder zu seiner Begleiterin werden können. Es wäre ganz simpel gewesen.« Sie sah mich an. »Der Weg zurück funktioniert genauso. Ein einfacher Gedanke genügt. Nur müssen es diesmal beide wollen.«
Faye betrachtete die Spitze ihrer Haare. Dann zuckte sie mit ihren schmalen Schultern. »Wir taten es nicht. Finn wollte mich nicht gehen lassen und mir war es gerade recht. Es gefiel mir, ein Mensch zu sein. Ich liebte Finn wie einen Bruder, wir waren unzertrennlich, immer zusammen – und wir teilten die gleiche Leidenschaft. Inzwischen wusste ich, wie es sich anfühlte zu malen.« Faye lächelte. »Ich malte keine magischen Wesen, keine Drachen, Ungeheuer oder Elfen«, sagte sie. »Ich malte Menschen. Sie waren die Wesen, die mich am meisten faszinierten.«
Ich betrachtete Faye, die ihr Haar wieder freigegeben hatte. Es fiel über ihr altmodisches Kleid und leuchtete im
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