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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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Urgroßvater?«, fragte ich.
    Faye schüttelte den Kopf. »Nein, der Auftraggeber war Ambroses Verleger. Er war eng mit Ambrose befreundet und wollte ein Porträt von ihm und deinem Urgroßvater anfertigen lassen, der als Literaturkritiker Ambroses Anfänge sehr gefördert hatte.«
    Ich erinnerte mich an das, was Tyger erzählt hatte. Er ist dabei gewesen, dachte ich und konnte es noch immer nicht fassen.
    »Ich willigte ein«, fuhr Faye fort. »Zwei Tage lang brauchte ich für das Porträt. Die beiden Männer posierten vor der Gartenlaube deines Urgroßvaters und auf Wunsch von Reed war seine Verlobte dabei. Ich sah die Verbindung zwischen Ambrose und Emily sofort.«
    Diesmal hatte Fayes Lächeln etwas Verschmitztes. »Ihre Finger kreuzten sich natürlich nicht in Wirklichkeit«, sagte sie. »Aber es war so deutlich, wem Emilys Herz gehörte. Und es war offensichtlich, wie sehr Ambrose von seinen eigenen Gefühlen zerrissen wurde. Er liebte die Verlobte seines Freundes und Förderers. Also malte ich das winzige Detail in das Bild. Ich weiß nicht mal, ob es dein Urgroßvater bemerkt hat. Jedenfalls war es der Auslöser dafür, dass ihm Ambrose und Emily die Wahrheit sagten.«
    Faye trank einen Schluck Wasser. »Sechs, sieben Jahre später traf ich Ambrose auf der Straße. Es war reiner Zufall. Er sah entsetzlichaus und ich bemerkte sofort, dass er keinen Begleiter mehr hatte. Ich machte mich auf die Suche und kurz darauf fand ich Morton. Ich klärte ihn auf, aber wir waren zu spät. Ambrose starb allein und Morton blieb zurück.«
    Es dauerte eine Sekunde, bis ich begriff, dass Faye mit Morton meinen Englischlehrer meinte – den sie seit fast hundert Jahren kannte.
    »Morton kam zu mir zurück, nachdem er ihn gefunden hatte«, fuhr sie fort. »Am Anfang kümmerte ich mich um ihn, aber dann trennten sich unsere Wege. Morton wurde zum Reisenden, ihn hielt es nie lange an einem Ort und mir ging es ähnlich. Nachdem ich so ziemlich um die ganze Welt gereist war, bin ich hier gelandet. Morton und ich sind immer in Verbindung geblieben.«
    Faye hielt inne. Hinter ihrem Rücken loderte das Feuer. Der Rest des Zimmers lag in tiefer Dunkelheit.
    »Als du im November hierherkamst, rief er mich an und erzählte mir, dass du eine seiner Schülerinnen gewesen bist.« In Fayes Stimme schwang ein Lächeln mit. »Eine besondere Schülerin, wie er sich ausdrückte. Er erzählte mir, dass du Williams Urenkelin seist und dass du eines Tages . . . allein in die Schule kamst.«
    Ich verstand sofort, wie Faye das meinte.
    »Er hat es gesehen«, flüsterte ich. Jetzt ergab auch das einen Sinn. Tygers ständige Seitenblicke seit jener Nacht im Oktober, mit der alles angefangen hatte, seine rätselhaften Bemerkungen, die Auswahl seiner Lektüre, die immer engere Kreise um mein Thema zog. Der Auszug aus Sartres Buch über die zweite Chance, die entsprechende Kurzgeschichte dazu von Lovell, bis hin zu der Hausaufgabe, die uns Tyger kurz vor meiner Abreise gestellt hatte: der kontroverse Dialog über den Satz Man stirbt immer zu früh . Als ich jetzt daran dachte, wurde mir kalt vor Angst.
    »Ja«, bestätigte Faye. »Er hat gesehen, was dir fehlte, oder besser gesagt: wer dir fehlte. Und dann hat er sich gezielt auf die Suche gemacht. Er fand Lucian und nahm ihn bei sich auf.« Faye hielt inne. Ihre Stirn kräuselte sich, plötzlich wurde ihr Blick zornig. »Morton wusste, dass es seine Aufgabe war, dir und Lucian zu helfen. Aber gleichzeitig sah er plötzlich die Chance, sich zu rächen.« Faye schüttelte den Kopf. »Ich werde es nie begreifen«, sagte sie. »Und wenn ich bis in alle Ewigkeit lebe, was ich vermutlich tun werde, ich werde nicht begreifen, warum Schuld vererbbar ist, warum sie in den Generationen weiterlebt, die nichts dafür können.«
    Sie fegte den Gedanken fort wie ein hässliches Insekt und kam zurück zu Tyger. »Er tat sozusagen das Mindeste, vielleicht, weil es ihm leichter fiel, Lucian zur Seite zu stehen, als dir. Er gab ihm ein Quartier und damit eine Basis, die es Lucian ermöglichte, eine Art von Leben aufzubauen und in deiner Nähe zu sein. Aber Morton klärte Lucian nicht auf. Sein Durst nach Rache ließ es ihn immer weiter aufschieben, und als Lucian verschwand, war es zu spät.«
    Ich versuchte zu atmen, aber es gelang mir nur mit Mühe. Alle Fragen waren beantwortet. Außer der letzten.
    Ich schloss die Augen.
    »Du weißt auch nicht, wo Lucian ist, oder?«
    Als Faye schwieg, öffnete ich meine Augen

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