Lucy im Himmel (German Edition)
Bauch war flach, Arme und Beine trainiert. Im linken Nasenflügel funkelte ein kleiner Stein, der wie ein Diamant aussah, was natürlich nicht sein konnte – wer würde schon mit einem teuren Klunker in der Nase im Dechsendorfer Weiher schwimmen? Ihre kurzen, schwarzgefärbten Haare standen ihr keck in allen Richtungen vom Kopf. Auf eine eigenwillige Art war sie recht hübsch.
»Versuchen Sie mal, ob Sie laufen können.«
Ich ergriff ihre Hand, die sie mir entgegenstreckte, und ließ mir von ihr aufhelfen. Vorsichtig setzte ich den Fuß auf den Boden und humpelte zwei Schritte. Es tat nur noch ein kleines bisschen weh.
»Ist das dort drüben Ihr Platz?« Die Unbekannte zeigte auf unsere Decke, die weit und breit die einzige war.
Ich nickte.
»Dann wickeln Sie sich jetzt in ein dickes Badetuch und legen sich in die Sonne. Wärme hilft bei Krämpfen. Und auf dem Heimweg holen Sie sich in der Apotheke eine Packung Magnesium. Denn so viele Bananen können Sie gar nicht essen, wie Ihr Körper jetzt an Mineralstoffen braucht.« Sie hakte mich unter und wollte mich zu unserer Decke begleiten.
Doch just in dem Augenblick setzte mein Gehirn plötzlich wieder ein. Es hatte sich wohl vom Schock des Fast-Ertrinkens gefangen. Ich erstarrte und glotzte die Frau an, als sei sie ein Gespenst. Es bestand kein Zweifel: Sie redete nicht nur mit mir, sie konnte mich sogar sehen und fühlen.
»Fangen Sie jetzt bloß nicht an, um Hilfe zu schreien. Ich will Sie nicht ausrauben. Nicht jeder Mensch mit einem Piercing und einem Tattoo ist ein Schwerverbrecher! Ich habe Sie lediglich aus dem Wasser gezogen, weil ich dachte, dass Sie am Absaufen sind.« Abrupt ließ sie mich los und machte zwei Schritte zurück.
Ich starrte sie nach wie vor mit offenem Mund an.
»So viel zum Thema Dankbarkeit«, murmelte sie kopfschüttelnd, drehte sich um, ging zum Wasser und schwamm davon.
Als Gregor eine halbe Stunde später zurückkam, saß ich noch immer wie vom Blitz getroffen auf unserer Decke und starrte blind auf den See hinaus. Erst nachdem sich mein Schatz neben mich gelegt hatte, fiel die Reglosigkeit von mir ab. Ich griff nach meiner Handtasche und kramte mein Handy hervor. Dann stand ich auf, um mich ins nahegelegene Gebüsch zu verziehen, damit mich bei meinem Telefonat niemand belauschte. Mit zittrigen Fingern wählte ich die 999. Auch heute meldete sich Engel Isolde in der himmlischen Notrufzentrale. Im Gegensatz zu gestern stellte sie mich jedoch kommentarlos zu Gabriel durch, sobald ich meinen Namen genannt hatte.
»Na, Lucy? Geht es gerade mal wieder um Leben und Tod?« Der Erzengel hatte wie so oft ein leises Lachen in der Stimme, mit dem er mich zunehmend irritierte.
»Ja, fast.«
»Und wer wäre diesmal um ein Haar gestorben?«
»Ich!«
Nun lachte er glucksend. »Lucy, du hast wirklich einen einzigartigen Humor. Aber falls es dich beruhigt: Du kannst nicht mehr sterben, du bist bereits tot.«
»Soso«, fauchte ich in den Telefonhörer. »Dann erklär mir bitte mal, warum mich gerade eine Frau vor dem Ertrinken retten musste!«
Am anderen Ende wurde es still. Endlich fragte er mit einem
Seufzen: »Was ist passiert?«
Ich erzählte ihm in aller Ausführlichkeit von meinem Krampf, und dass ich nur deshalb nicht abgesoffen war, weil mich die Unbekannte aus dem See gefischt hatte.
»Lucy, das bildest du dir alles bloß ein.«
»Ach ja, es ist also ein reines Hirngespinst, dass ich höllische Schmerzen in meinem rechten Bein hatte und auch jetzt noch ein Ziehen spüre, ja?!«
»Nein, das kann durchaus sein. Einen Wadenkrampf bekommt jeder mal. Auch Engel.«
»Prima! Wenn also sogar Erzengel beim Schwimmen schon einmal einen Wadenkrampf bekommen haben, weißt du genau, wie leicht man damit untergehen kann. Die Frau hat mich gerettet!«
»Lucy, das wäre die zweite Dame innerhalb von achtundzwanzig Stunden, die dich sehen könnte. Das ist völlig unmöglich.«
»Nein, nicht die Zweite. Ich glaube, es war ein und dieselbe.«
Gabriel stöhnte.
»Ich war gestern viel zu aufgeregt, als dass ich sonderlich auf die Frau geachtet hätte. Ich habe nur etwas an ihrer Nase aufschimmern sehen. Aber die heute habe ich mir ganz genau angeschaut, und sie hatte auch wieder so einen kleinen Glitzerstein im
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