Lucy im Himmel (German Edition)
»Na, da mach dir mal keine Sorgen, ich bin keine Königin und du bist auch bloß ein Engel.«
»Mit der Aussage wollte Ludwig XVIII. zum Ausdruck bringen, dass Pünktlichkeit selbst von Königen beachtet werden sollte, um so den Respekt vor seinen Mitbürgern auszudrücken.«
Ich seufzte. »Tut mir wirklich leid, dass ich so spät dran bin, aber mir ist der Bus vor der Nase weggefahren, und das hat eine Kettenreaktion in Gang gesetzt. Hat dir Gabriel nicht Bescheid gegeben? Er verfolgt mein Tun und Denken doch schier auf Schritt und Tritt.«
»Na, ich glaube, da nimmst du dich ein bisschen zu wichtig. Er dürfte wohl kaum genug Zeit haben, sich ständig persönlich um dich zu kümmern.«
»Stimmt auch wieder. Immer wenn es wirklich interessant wird, guckt er weg. Aber wenn es mir gelegen käme, dass er wegschaut, beobachtet er mich besonders scharf.«
Engel Manuel schüttelte grinsend den Kopf. »Jetzt komm. Wir liegen meilenweit hinter unserem Zeitplan. Das kann ich bei den paar tausend Kilometern bis zum Himmel gar nicht alles aufholen.«
Ich wollte ihn noch fragen, wie ich das verstehen sollte, aber er war schon voraus in die Gruft gegangen, sodass ich mich beeilen musste, ihm zu folgen. Als sich dann das Scherengitter des goldenen Käfigs hinter mir schloss und der Fahrstuhl im selben Moment mit gefühlter Schallgeschwindigkeit gen Himmel schoss, wurde mir klar, was er gemeint hatte. Hätte er mich nicht lässig grinsend mit einem Arm an sich gedrückt, hätte ich keinen Meter aufrechtstehend zurückgelegt. Offenbar gab es auch unter männlichen Engeln Exemplare mit einem Geschwindigkeitstrauma.
»Irgendwann bringst du mit deiner Raserei noch jemanden um!«, murmelte ich, als der Aufzug abrupt bremste und mit einem Quietschen zum Stehen kam.
»Das Gute an meinem Job ist, dass ich das nicht kann, weil schon alle tot sind«, grinste mich Manuel breit an.
Als ich ausstieg, glaubte ich eine kleine weiße Rauchwolke über uns schweben zu sehen; außerdem roch es nach verbranntem Gummi. Plötzlich stand Engel Helene vor uns. Auch sie bedachte Manuel mit einem missbilligenden Kopfschütteln, bevor sie mich von Kopf bis Fuß musterte.
»Scharfe Biene, unser Möchtegern-Engelchen, nicht wahr?«, grinste Manuel seine Kollegin an. »Ich bin dafür, dass wir eine Überarbeitung unserer Dienstkleidung in Erwägung ziehen. Dir würde so ein knappes rotes Röckchen sicher auch stehen. Nur bei den Schuhen sehe ich Probleme, oder denkst du, du könntest auf derart hohen Absätzen laufen?«
Erst in dem Augenblick wurde mir klar, dass ich nach dem Aufstehen dummerweise nicht in meine Engelstracht geschlüpft war, sondern stattdessen wieder mein Agentin-Null-Null-Engel-Lucy-Outfit angezogen hatte. Das brachte mir bei Helene nun nicht gerade Pluspunkte ein. Sie schaute naserümpfend auf die Uhr und wies mich abrupt an, ihr zu folgen: Erzengel Gabriel würde mich schon seit fünf Minuten erwarten. Holla, die Waldfee. Da hatte Manuel mit seinem halsbrecherischen Fahrstil zehn Minuten herausgeschlagen. Ich drehte mich schnell noch einmal um und hielt ihm breit grinsend meinen hochgereckten Daumen hin.
»Na, dass man in den Pumps nicht gut rennen kann und deshalb seinen Bus verpasst, kann ich mir vorstellen«, begrüßte mich der Chef mit einem leisen Lächeln kurz darauf in seinem Büro. Ungefragt stellte er mir ein Glas Latte Macchiato hin.
Auch wenn ich eigentlich vorgehabt hatte, sofort in die Offensive zu gehen, ließ ich mich doch erst einmal erschöpft in den bequemen Sessel vor seinem Schreibtisch sinken.
»Für Engel Helene wäre es einfacher gewesen, wenn du drangedacht hättest, dich vor deiner Rückkehr umzuziehen«, sagte er mit sanfter Strenge in der Stimme. »Sie legt viel Wert auf korrekte Kleidung – sowohl bei Himmelsbewohnern als auch bei unseren Abgesandten, die auf Erden wandeln dürfen.«
Ich holte tief Luft, um etwas zu erwidern, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen.
»Ja, Lucy, ich weiß, es war mein Fehler: Ich hätte dich erinnern sollen. Schließlich habe ich dich zur Bushaltestelle sausen sehen.«
Für einen Augenblick verschlug es mir die Sprache. Er hatte mich also wieder beobachtet.
»Dann hättest du aber auch Manuel Bescheid sagen können, dass ich mich ein klein wenig verspäte. Ich hatte schon Angst, er würde ohne mich
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