Lucy Sullivan wird heiraten
dann war es mir nicht recht.
»Komm rein, setz dich und trink ’n Glas Wein mit uns«, schlug Daniel vor. »Du siehst ganz erledigt aus und bist weiß wie die Wand.«
Wir gingen ins Wohnzimmer, wo mir jemand ein Glas Wein in die Hand drückte, während ich versuchte, ganz normal zu wirken.
Während die anderen entspannt und munter plaudernd dasaßen und Wein tranken, war ich starr vor Spannung, brachte kein Wort heraus und merkte, wie ich erwartungsvoll auf die Türglocke lauschte. Lautlos betete ich, das Telefon möge läuten.
Bitte, Gus, tu mir das nicht an, flehte ich stumm. Bitte, lieber Gott, mach, daß er kommt.
Dann war es neun Uhr, und es kam mir vor, als wäre erst eine halbe Minute vergangen. Die Zeit war ein richtig widerliches Miststück. Wenn ich wollte, daß sie rasch verging, zum Beispiel bei der Arbeit, verlangsamte sie sich bis zum Stillstand. Es konnte einen ganzen Tag und eine ganze Nacht dauern, bis auch nur eine einzige Stunde herum war. Jetzt wollte ich, daß die Zeit stehenblieb, und sie raste dahin. Ich hatte gehofft, daß sie wenigstens ein paar Stunden auf etwa halb neun bleiben würde, damit Gus nicht so entsetzlich zu spät käme. Solange er sich nur eine halbe Stunde verspätet hatte, bestand noch eine gewisse Aussicht, daß er kam, gab es noch Hoffnung. Ich wollte, daß die Zeit ganz langsam verging, damit alles in einem Zeitrahmen blieb, innerhalb dessen er noch kommen konnte. Jede Sekunde, die verging, jede Sekunde, die es später wurde, war meine Feindin. Jedes Ticken der Uhr entfernte Gus weiter von mir.
Immer wenn das Gespräch einschlief – und das kam von Zeit zu Zeit vor, denn wir hatten noch nicht genug Wein getrunken und fühlten uns bei so viel festlicher Gewandung in der eigenen Wohnung ein wenig unbehaglich – sagte jemand »Wo Gus nur bleibt?« oder »Wo wohnt Gus noch mal? In Camden? Vielleicht ist was mit der U-Bahn« oder »Sicher war ihm nicht klar, daß das mit acht Uhr wörtlich gemeint war«.
Keiner der anderen schien sich besonders große Sorgen zu machen. Ich machte mir dafür um so größere. Nicht nur, weil er sich verspätet hatte – obwohl das nach all dem Ärger, den Karen wegen des Essens schon gemacht hatte, äußerst peinlich war –, sondern vor allem, weil er aus seiner Wohnung ausgezogen war, ohne mir etwas davon zu sagen. Das hatte nichts Gutes zu bedeuten. Ganz gleich, wie ich die Sache betrachtete, sie gefiel mir nicht.
Immer wieder überfiel mich die Verzweiflung. Was, wenn er nicht käme? Was, wenn ich ihn nie wiedersähe? Und wer war Mandy?
Ich versuchte mich am munteren Geplauder im Wohnzimmer zu beteiligen und dem zuzuhören, was die anderen sagten und meinem starren weißen Gesicht ein Lächeln abzuringen. Aber ich war so aufgeregt, daß ich kaum eine Sekunde lang stillsitzen konnte.
Dann schwang das Pendel in die andere Richtung und ich beruhigte mich. Schließlich hatte er sich erst um eine Stunde verspätet, na ja, um eineinviertel Stunden. Verdammt nochmal, war es schon so lang, volle eineinviertel Stunden? Wahrscheinlich käme er im nächsten Augenblick, ein wenig angeheitert, mit irgendeiner verrückten und unglaubwürdigen Entschuldigung. Du steigerst dich da zu sehr hinein, mahnte ich mich. Ich war sicher, er würde kommen, und es belustigte mich ein wenig zu sehen, wie mühelos ich mir die schwärzesten Möglichkeiten ausgemalt hatte.
Gus war mein Freund, wir waren uns in den letzten Monaten so nahe gekommen, ich wußte, daß ihm an mir lag und er mich nicht im Stich lassen würde.
40
U m zehn Uhr waren alle Schalen mit Knabberzeug leer, und jeder schien einen Kleinen sitzen zu haben.
»Ich hör mir diesen Jazzscheiß nicht länger an«, verkündete Charlotte und schaltete die Stereoanlage aus.
»Gott, bist du ordinär«, sagte Karen.
»Von mir aus«, gab Charlotte mit hochrot glänzendem Gesicht zurück. »Jedenfalls ist es Mist. Keine Melodie, und immer, wenn ich mitsingen will, wird es ganz komisch. Ich will jetzt was Anständiges hören.«
Karen unternahm nichts, als Charlotte eine andere Kassette einlegte. Das konnte nur heißen, daß auch sie von John Coltranes späten musikalischen Exkursen die Nase voll hatte.
»So«, meldete sich Karen zu Wort und wechselte das Thema. »Ob Gus noch kommt oder nicht, es ist Zeit zum Essen. Ich will, daß ihr das köstliche Mahl genießt, bevor ihr so hinüber seid, daß ihr es nicht mehr würdigen könnt.«
Mit der Aufforderung »Charlotte, Lucy, auftragen«, deutete
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