Lucy Sullivan wird heiraten
sie auf die Tür. Auf dieses Stichwort hin mußten wir uns in Serviermädchen verwandeln.
Ich brachte nichts hinunter. Nach wie vor hoffte ich verzweifelt, Gus werde kommen. Käme er doch nur, und sei es mit einer noch so phantastischen und aberwitzigen Ausrede. Ich werde dir auch nicht böse sein, versprach ich ihm feierlich. Ich versprech es dir – komm, und ich mach dir nicht den kleinsten Vorwurf.
Nach einer Weile sagte niemand mehr Dinge wie »Ich frag mich nur, wo Gus bleibt« und »Was kann mit Gus passiert sein?« Auch sah niemand mehr aus dem Fenster, ob ein Taxi mit Gus darin vorfuhr.
Ganz im Gegenteil gaben sich alle große Mühe, ihn möglichst nicht zu erwähnen. Es war klargeworden, daß er nicht einfach verspätet war, sondern nicht kommen würde.
Allen war klar, daß er mich versetzt hatte, und sie bemühten sich in auffällig unauffällig, so zu tun, als wäre nichts geschehen, falls aber doch, als hätten sie nichts davon gemerkt.
Ich begriff, daß sie mich einfach schonen wollten, empfand das aber als erniedrigend.
Der Abend zog sich unendlich in die Länge. Es gab so viele Gänge und von allem so viel, daß ich dachte, er werde nie enden. Ich hätte sonstwas darum gegeben, schlafen gehen zu können, aber das ließ mein Stolz nicht zu.
Das Thema Gus kam erst viel später wieder aufs Tapet, als alle wirklich (und nicht mehr nur ziemlich) betrunken waren.
»Laß den Sack doch sausen«, lallte Karen, deren Frisur sich bedrohlich zur Seite neigte. »Wie kann er es wagen, dich so zu behandeln? Ich würde ihn umbringen.«
»Wir wollen ihm eine Chance geben«, lächelte ich angespannt. »Immerhin kann ihm was zugestoßen sein.«
»Na hör mal, Lucy«, spottete Karen. »Wie kannst du so dumm sein? Es ist doch sonnenklar, daß er dich versetzt hat.«
Natürlich war es sonnenklar, aber ich hoffte, mir einen Rest meiner Selbstachtung zu bewahren, indem ich das alles leugnete.
Daniel und Simon sahen unbehaglich drein. Simon fragte Daniel munter: »Na, was macht die Arbeit?«
»Er hätte anrufen können«, sagte Charlotte.
»Vielleicht hat er es vergessen«, sagte ich kläglich.
»Er hätte es auf jeden Fall tun sollen«, lallte Karen.
»Hast du eigentlich mal nachgesehen, ob unser Telefon funktioniert?« rief Charlotte plötzlich. »Ich wette, es ist kaputt oder die Leitung ist tot oder irgendwas anderes ist passiert, so daß er sich gar nicht melden konnte.«
»Das bezweifle ich«, sagte Karen.
»Vielleicht hast du nicht richtig aufgelegt«, meinte Daniel. »Wenn der Hörer daneben liegt, kommt keiner durch.«
Diese Möglichkeit wurde in Erwägung gezogen, weil sie von Daniel stammte. Alle stürmten in die Diele, ich an der Spitze, gegen alle Vernunft hoffend, daß er recht hatte. Natürlich war mit dem Telefon alles in Ordnung, und der Hörer lag auf der Gabel. Wie peinlich.
»Ihm könnte was passiert sein. Vielleicht hatte er einen Unfall. Ein Auto kann ihn überfahren haben, und er ist dabei verunglückt«, sagte ich, mit einem Schimmer neuer Hoffnung. Es war für Gus weit besser, er läge blutbeschmiert und mit zerschmetterten Gliedmaßen unter den Rädern eines Schwerlasters, als daß er beschlossen hätte, von mir nichts mehr wissen zu wollen.
Es klopfte gerade, als Karen mit Simon einen leidenschaftlichen, wenn auch schwer durchschaubaren Wortwechsel über den schottischen Nationalismus führte.
»Ruhe mal«, rief Daniel, »ich hab was gehört. Da ist jemand an der Tür.« Wir verstummten – sprachlos eher wegen der Überraschung, als weil wir etwas hören wollten.
Mit angehaltenem Atem lauschten wir. Daniel hatte recht. Tatsächlich klopfte jemand an die Tür.
»Gott sei Dank«, sagte ich begeistert, vor Erleichterung benommen.
Danke, lieber Gott, danke, lieber Gott, danke, lieber Gott. Ich werde Gutes tun, zu Armen freigebig sein, Geld für die Arbeit der Kirche spenden, oder was auch immer du willst. Auf jeden Fall danke ich dir, daß du mir Gus zurückgegeben hast.
»Ich geh hin.« Mit diesen Worten stand Charlotte schwankend auf. »Er soll bloß nicht denken, daß du dir Sorgen gemacht hast. Mach ein ganz natürliches Gesicht.«
»Danke«, sagte ich und stürmte in Panik zum Spiegel. »Ist alles in Ordnung? Sehen meine Haare gut aus? Gott, wie rot mein Gesicht ist! Gib mir jemand rasch mal ’nen Lippenstift.«
Ich fuhr mir mit den Fingern durch die Haare und warf mich aufs Sofa. Während ich wartete, daß Gus hereinkam, bemühte ich mich, unbefangen auszusehen.
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