Lucy Sullivan wird heiraten
allein.
Ich hatte mich immer für umgänglich gehalten, für freundlich, großzügig und selbstlos. Entsetzt erkannte ich, daß Güte und Großzügigkeit nur ein hauchdünner Firnis sind, wenn es hart auf hart kommt. Mir wurde klar, daß auch ich nicht anders war als andere Menschen: ein zähnefletschendes Raubtier.
Ich konnte mich nicht besonders ausstehen – allerdings war das nicht gerade neu.
Meredia, Jed und Megan machten sich Sorgen um meinen Geisteszustand, oder besser gesagt, meine Geisteszustände. Meine Stimmung wechselte täglich. Sie wollten unbedingt alles darüber wissen und boten mir ihren Rat und ihre Ansichten dazu an.
Wie gesagt, es war Januar, und niemand ging besonders viel aus.
»Was ist es heute?« riefen sie im Chor, als ich ins Büro kam.
»Ich bin wütend, weil ich als kleines Mädchen keinen richtigen Vater hatte.«
Oder: »Ich bin traurig. Es kommt mir vor, als wäre der Mann gestorben, den ich geliebt und für meinen Vater gehalten habe.«
Oder: »Ich hab das Gefühl, versagt zu haben. Ich hätte genug Kraft aufbringen müssen, mich um ihn zu kümmern.«
Oder: »Ich hab ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn verlassen habe.«
Oder: »Ich bin neidisch auf Leute, die eine normale Kindheit hatten.«
Oder: »Ich bin traurig...«
»Was, schon wieder?« fragte Meredia. »Das warst du doch erst vor ein paar Tagen.«
»Weiß ich«, sagte ich. »Aber diesmal ist es was anderes. Ich trauere um mich selbst.«
Wir führten allerlei hochgestochene metaphysische Gespräche. Ich lieferte den Anlaß für viele Unterhaltungen, in denen es um das Überleben in Extremsituationen ging.
»Wißt ihr noch die Jungen bei dem Flugzeugabsturz in den Anden?« fragte ich.
»Du meinst die, die überlebt haben, weil sie sich von ihren Mitpassagieren ernährt haben?« fragte Meredia.
»Und die dann zu Hause von den anderen in ihrer Stadt geschnitten wurden, weil sie ihre Nachbarn aufgefressen hatten? « fragte Jed. In unserem Büro wurde mit der Lektüre von Revolverblättern nicht geknausert.
»Genau die«, sagte ich. »Was meint ihr: Ist es besser, mit einem Rest Ehrgefühl zu sterben oder sich beim Kampf ums Überleben die Hände so richtig schmutzig zu machen?«
Stundenlang wogte die Diskussion hin und her, wobei wir bedeutsame Grundfragen der menschlichen Moral abhandelten.
»Wie Menschenfleisch wohl schmecken mag?« fragte Jed. »Ich hab mal gehört, jemand soll gesagt haben, es wär so’n bißchen wie Huhn.«
»Brust oder Keule?« fragte Meredia. »Wenn es wie Hühnerbrust schmeckt, würde mich das nicht weiter stören, aber wenn es wie Hühnerkeule schmeckt, würde ich keinen Bissen runterkriegen.«
»Ich auch nicht«, stimmte ich zu. »Außer mit Grillsoße.«
»Ob die was zum Drauftun hatten? Mayonnaise, Ketchup oder so?« überlegte Jed laut.
»Hat der Pilot wohl anders geschmeckt als die Passagiere?« fragte ich.
»Höchstwahrscheinlich«, nickte Meredia wissend.
»Meinst du, die haben das Fleisch gekocht oder roh gegessen?« fragte Megan.
»Vermutlich roh«, sagte ich.
»Gott, mir kommt es gleich hoch«, sagte Megan.
»Tatsächlich?« Wir sahen sie überrascht an. Sie war normalerweise nicht besonders zimperlich.
»Aber du warst doch gestern gar nicht saufen«, sagte ich verwirrt. Sie sah tatsächlich käsig aus. Das konnte aber auch daran liegen, daß ihre Sonnenbräune allmählich verblaßte.
Sie legte sich eine Hand auf die Brust, und man sah, daß ihr Oberkörper zuckte.
»Mußt du dich wirklich übergeben?« fragte ich beunruhigt und stellte ihr vorsichtshalber einen Papierkorb auf den Schoß.
Wir drei sahen sie an, begeistert von dem Drama, das sich abspielte, und hofften, sie werde sich tatsächlich übergeben und damit ein wenig Abwechslung in unseren Tag bringen. Aber nichts geschah. Nach wenigen Minuten schleuderte sie den Papierkorb zu Boden und sagte: »So, alles in Ordnung. Wir wollen abstimmen. Wer ist für Auffressen?« Drei Hände wurden gehoben.
»Na komm schon, Lucy«, sagte Jed. »Sag auch ja.«
»Ich weiß nicht recht.«
»Lucy, wen hast du leben lassen? Dich oder deinen Vater?«
»Hä?«
Beschämt hob ich die Hand. Jed nutzte es aus, daß Meredia den Arm gehoben hatte, und kitzelte sie. Sie kreischte auf und sagte kichernd: »Oooooh, du kleiner...«
Die beiden schienen vergessen zu haben, daß sie nicht allein waren – sie bedachten sich gegenseitig mit Beschimpfungen und veranstalteten eine Art Ringkampf. Bedeutungsvoll sah ich Megan an und
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