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Lucy Sullivan wird heiraten

Lucy Sullivan wird heiraten

Titel: Lucy Sullivan wird heiraten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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schlimm war. Oder so ähnlich. Alles in allem war es einfacher, nicht darüber nachzudenken.
    Gelegentlich fiel mir ein, wie er mich geküßt hatte, und ich gab mich dieser Erinnerung überglücklich hin, ehrlich gesagt, sogar voll Entzücken. Jedesmal, wenn ich daran dachte – das aber kam nur äußerst selten vor –, fiel mir sofort der Abend ein, an dem er mich nicht hatte küssen wollen, und das Gefühl der abgrundtiefen Scham, das darauf folgte, bereitete meiner Erinnerung rasch und endgültig ein Ende.
    Jedenfalls setzten Daniel und ich unsere Beziehung auf der früheren Ebene fort und gingen miteinander so entspannt um, daß wir gemeinsam über unsere kurze Liebesepisode lachen konnten. Jedenfalls fast.
    Manchmal, wenn er mich fragte: »Möchtest du noch was trinken?« zwang ich mich zu einem Lachen und sagte leichthin: »Nein, danke, es genügt. Schließlich wollen wir nicht nochmal so was erleben wie damals in Dads Haus, als ich dich zu verführen versucht hab.«
    Ich lachte jedesmal herzlich darüber, in der Hoffnung, jede verbleibende Schande und peinliche Betretenheit wegzulachen. Er lachte nie richtig mit. Allerdings hatte er auch keinen Grund dazu.

79
    A uf den Januar folgte der Februar. Schneeglöckchen und Krokusse zeigten sich allmählich, die Menschen tauchten aus ihren Kokons auf, vor allem nach dem Ersten, als sie zum ersten Mal seit dem finanziellen Kraftakt von Weihnachten und Neujahr, Geld in die Finger bekamen. Jetzt, da sie über die Mittel verfügten, sich zu betrinken und ein eigenes Leben zu führen, verloren Meredia, Jed und Megan jedes Interesse an meinen Lebensumständen. Das war wirklich schade, weil ich noch so viel zu bieten hatte – kein Tag verging, an dem mich nicht Abscheu und Scham vor mir selbst quälten.
    Einmal wöchentlich besuchte ich meinen Vater, und zwar grundsätzlich sonntags, denn an Sonntagen befand ich mich ohnehin in Selbstmordstimmung, und es wäre doch schade gewesen, die zu vergeuden. So stark ich den Abscheu vor mir selbst auch empfand, er war nichts im Vergleich mit dem Haß, den mir mein Vater entgegenbrachte. Natürlich waren mir sein Abscheu und seine Gehässigkeit hoch willkommen, weil ich überzeugt war, sie zu verdienen.
    Allmählich ging der Februar in den März über, und ich war der einzige Mensch, der sich nach wie vor im Winterschlaf befand. Obwohl mein Vater gut versorgt wurde, was seine körperlichen Bedürfnisse anging, zerfraß mich mein schlechtes Gewissen. Daniel war der einzige Mensch, dem ich mein Herz ausschütten konnte. Ganz gleich, was die Leute sagen, es gibt eine zeitliche Grenze, bis zu der es einem Menschen gestattet ist, zu trauern, sei es um einen Vater, einen Freund oder ein Paar Schuhe, die es nicht in der richtigen Größe gab. Diese Toleranzgrenze lag bei Daniel weit höher als bei allen anderen.
    Im Büro hörte mir kein Mensch mehr zu. Wenn montags jemand fragte: »Na, war es am Wochenende schön?« gab ich gewöhnlich zur Antwort: »Schrecklich, ich wollte, ich wär tot«, und niemand zuckte mit der Wimper.
    Vermutlich hätte ich ohne Daniel den Verstand verloren. Er war wie ein Therapeut, nur daß er keinen halben Wochenlohn für die Stunde verlangte und auch keine beigefarbene Cordhose oder Socken zu Sandalen trug.
    Ich war nicht immer in gedrückter Stimmung, wenn wir uns trafen. Wenn ich aber Trübsal blies, war er phantastisch. Auch wenn ich immer dieselben Klagen widerkäute, dieselben Sorgen vor ihm ausbreitete, er hörte mir mit großer Geduld zu.
    Es kam vor, daß ich mich nach der Arbeit auf einen Schluck mit ihm traf, mich neben ihn setzte und sagte: »Bitte unterbrich mich, wenn du das schon gehört hast, aber...« und erneut ein Jammerlied vom Stapel ließ, beispielsweise darüber, daß ich die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, den ganzen Sonntag weinen mußte, mir einen Abend lang entsetzliche Sorgen um Dad gemacht hatte, seinetwegen ein schlechtes Gewissen hatte oder mich für ihn schämte. Kein einziges Mal beklagte sich Daniel, daß mir nichts Neues einfiel.
    Nie hob er die Hand wie ein Polizist, der den Verkehr regelt und sagte: »Augenblick mal, Lucy, ich glaub, das kenn ich schon!«
    Dabei hätte er allen Grund dazu gehabt, denn bestimmt hatte er meine Leidensgeschichte eine Million Mal gehört. Mitunter wich der Wortlaut ein wenig ab, aber die Pointe war immer dieselbe. Armer Daniel.
    »Entschuldige«, sagte ich. »Ich wünschte, daß mein Elend ein bißchen abwechslungsreicher wäre. Es muß

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