Lucy
gekommen.
Lucy döste wieder ein. Als sie aufwachte, war der Mond schon verschwunden, und es wurde langsam hell. Im Urwald hatte sie die Augenblicke des beginnenden Morgens geliebt, das Crescendo der Stimmen in den Bäumen; die aufsteigenden Gerüche des Lebens um sie herum; die durch den Dämmer des Urwalds streichenden Großkatzen; und dann der Aufgang der Sonne, die einzelne Lichtstrahlen in die Dunkelheit sandte, als ob sie nach etwas suchte. Als Lucy jetzt die Sonne hinter dem Fenster aufgehen sah, tat sie ihr richtig leid. Sie war so schwach geworden. Lucy fürchtete, dass ihre Wärme ganz dahinschwinden und alles erfrieren würde. Das war nur ein kindischer Gedanke, das wusste sie. Ihr Vater hatte ihr alles über den Kosmos beigebracht. Aber manchmal konnte sie ihre Gedanken einfach nicht kontrollieren.
Sie lag im Bett und versuchte, gar nicht zu denken. Doch ein Wort drang an die Oberfläche: Schule. Ihr Vater, der ihr einziger Lehrer gewesen war, hatte ihr von der Schule erzählt, aber sie konnte sich noch immer nicht vorstellen, wie es dort sein mochte. Sie fürchtete, dass es zu viele Menschen geben würde. Und dass es laut sein würde. Überhaupt war alles in dieser neuen Welt laut. Sie konnte schon wieder das Brummen von der Straße hören. Manchmal kamen tagsüber Männer mit schrecklichen Maschinen, mähten überall an der Straße das Gras und bliesen alles mit einem fürchterlichen Getöse |36| herum. Lucy verkroch sich immer zitternd in ihrem Zimmer, wenn sie kamen.
Jetzt konnte sie Jennys Kaffee riechen. Vor einer Weile schon hatte sie sie aufstehen hören. Jenny war auf Zehenspitzen ins Badezimmer geschlichen. Doch Lucy hatte sie natürlich gehört. Kein Wunder, dass Jenny nicht leise sein konnte, dachte Lucy. Wie sollte sie es denn lernen, wenn sie in einer so lauten Welt lebte? Lucy kannte die Stille. Termiten, dachte sie. Termiten sind still, selbst wenn sie ihre Geräusche machen. Stille Geräusche.
Als Jenny und sie nach ihrer langen Reise angekommen waren, hatte Jenny Lucy ihr Zimmer gezeigt. Zuvor waren sie viele Tage unterwegs gewesen, und Lucy hatte die ganze Zeit Kleider getragen. Doch sobald sie das erste Mal allein war, hatte sie sie sich wieder vom Leib gerissen und das Gefühl der Freiheit genossen. Sie hatte dagestanden und sich in diesem seltsamen Zimmer umgesehen, das vollgestopft war mit Dingen, die sie bisher nur aus Büchern kannte: die gerahmten Drucke von Monets Seerosen an der Wand, die Vase mit den getrockneten Gräsern darin, ein hübscher Teppich, ein Schreibtisch, Lampen, ein großes Bett mit geblümter Überdecke, eine Schachtel Papiertaschentücher und ein elektrisches Radio, das mit leuchtend roten Ziffern die Zeit anzeigte.
An diesem ersten Tag war Lucy nackt quer durchs Zimmer gelaufen, zur Stehlampe hinüber. Und hatte sie eingeschaltet. Und dann wieder ausgeschaltet. Und wieder eingeschaltet, und ausgeschaltet, und ein, und aus, immer und immer wieder. Lucy staunte über das Licht und spürte seine Wärme. So viel Licht, dachte sie. Die Straße war die ganze Nacht lang hell erleuchtet wie eine Theaterbühne für Schauspieler. Doch es kam nie jemand. Ihr Vater hatte das Licht stets streng eingeteilt, weil sie oft nicht genügend Treibstoff für den Stromgenerator |37| gehabt hatten. Aber wenn sie welchen hatten, dann machte er am Abend Licht, spielte auf einem alten Plattenspieler Musik und brachte Lucy bei, Arien zu singen.
An diesem ersten Tag in ihrem neuen Zuhause hatte Lucy, als sie die Lampe ein- und ausschaltete, noch ein anderes Geräusch gehört. Es war ganz schwach und kam vom Fußboden. Sie hielt inne, um zu lauschen: Es waren Termiten. Still, aber doch nicht geräuschlos. Ein schönes und vertrautes Geräusch. Hier lebte also doch etwas und fraß am Haus. Lucy nahm eines der toten Gräser aus der Vase, ging lächelnd zur Wand und dachte an das, was ihr Vater immer gesagt hatte: Das Leben bahnt sich einen Weg. Sie schob den Grashalm in die kleine Ritze zwischen Wand und Fußboden. Seit sie den Urwald verlassen hatte, musste sie stets so seltsame Dinge essen. Da waren Termiten doch mal eine schöne Abwechslung.
Als sie auf dem Fußboden hockte, lauschte und mit dem Grashalm in der Ritze fischte, trat Jenny in die Tür.
»Guten Morgen, Lucy. Was machst du denn da?« »Termiten suchen.«
»Termiten? Wirklich? Termiten?«
»Sie sind unter dem Fußboden. Sie schmecken gut. Möchtest du auch welche?«
»Hm, im Kongo habe ich mal welche probiert.
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